Die Wette2

[162] »Höre einmal, meine allerliebste Freundin,« sagte einst der Hase zur Schildkröte, »du hast doch ganz entsetzlich kurze Beine« – und als er sah, daß diese Bemerkung nicht weiter übel aufgenommen wurde, fuhr er lachend fort: »Ich glaube, ich laufe sechs Meilen, ehe du mühsam eine hinter dich bringst.« Die Schildkröte saß noch immer ganz gleichmütig auf ihrem Platz, und der Hase fing an, sich auf etwas Neues zu besinnen, womit er die Schildkröte ärgern könnte. Seine Frau stieß ihn leise von der Seite an, als ob sie sagen wollte: »Laß doch die Gute, es kann nicht jeder in der Welt so gescheit sein wie ein Hase.« Da sagte die Schildkröte auf einmal:[162] »Hase, ich möchte einmal einen Wettlauf mit dir versuchen, denn ich glaube das gar nicht, daß du eher eine Meile zurücklegst als ich.«

Herr und Frau Hase sahen sich ganz entsetzt an. Sprach die Schildkröte im Traum, oder was kam ihr in den Sinn? Denn wenn es auch nur ihr Scherz sein sollte, so war das dem eitlen Hasen schon zu viel. Und als er nach einigem Hin- und Herreden nun gar merkte, daß es ihr bitterer Ernst war, wurde er ganz wütend und schrie sie an: »Ja, auf die Wette gehe ich ein, und sie soll dir teuer zu stehen kommen.« Frau Hases Bemühungen, die beiden im Guten auseinander zu bringen, schlugen alle fehl. Sie beredeten sogar schon, wer Zeuge des Wettlaufes sein sollte, und setzten einen Preis aus. Doch konnte der Preis dem Hasen gar nicht hoch genug werden; immer wieder überbot er den Vorschlag der Schildkröte. Endlich sagte diese: »Nun gut, ich setze mein ganzes Vermögen und alles, was ich habe, aufs Spiel und erwarte von dir dasselbe.« – »So bin ich's zufrieden,« antwortete der Hase. Die Schildkröte sagte darauf Frau Hase ein freundliches Lebewohl und ging. »Du Närrin,« schalt der Hase noch hinter ihr her, »denkst du denn wirklich, daß du den Hasen im Laufen besiegen wirst?«

Als die Schildkröte nun in ihrer Wohnung angekommen war, rief sie ihre sechs Kinder zu sich und sprach zu ihnen: »Liebe Kinder, ich habe noch einen Weg vor, und ihr sollt mich alle begleiten.« O, das war eine Freude! Sie machten sich alle, so schnell wie möglich, fertig und befolgten den Rat der Mutter genau, sich recht[163] warm anzuziehen; denn sie hatten es mit Jubel vernommen, daß sie erst am folgenden Tage gegen Mittag heimkehren würden. Als alle fertig waren, ging es hinaus in den dunklen Wald. An der ersten Biegung des Weges sprach die Schildkröte zu ihrem jüngsten Kinde: »Hier setze dich still hin und warte, bis morgen früh der Hase vorbeilaufen wird, dann rufe ihm zu: ›Lauf, Häslein, lauf!‹« Das Kind mußte die Worte noch einmal wiederholen, und als sich Mutter Schildkröte überzeugt hatte, daß es dieselben genau behalten hatte, ging sie mit den anderen fünf Kindern weiter. An jede Biegung des Weges aber setzte sie wieder eines ihrer Kinder, und immer gab sie ihm dieselbe Weisung, »lauf, Häslein, lauf!« zu rufen. Als sie so eine Meile gegangen war, kam sie an einen großen Stein; dieser war das Ziel des Wettlaufes. So hatte sie es mit dem Hasen verabredet. Es war nur noch ein Kind, ihr ältester Sohn, bei ihr. Diesem gebot sie nun, sich neben den Stein zu setzen, und wenn er den Hasen kommen sähe, aus allen Kräften zu schreien: »Gewonnen, gewonnen, ich habe gewonnen!«

Nun ging die Schildkröte auf einem näheren Wege ihrem Hause zu. Sie war sich ganz sicher, daß ihr die List gelingen würde; denn ihre Kinder waren ihr stets gehorsam, darauf konnte sie sich verlassen. Sie schlief so sanft die Nacht, als ob es nie eine Wette zu gewinnen oder zu verlieren gäbe.

Anders war es mit dem Hasen. Er war sehr aufgeregt, und als es endlich Tag wurde, erklärte er seiner Frau, daß er eine sehr unruhige Nacht gehabt habe. Mit Sehnsucht und Ungeduld sah er nach den Zeugen[164] aus. Sie hatten versprochen, ihn zuerst abzuholen. Frau Hases Frühstück war umsonst aufgetragen; der Hase hatte erklärt, daß ihm mit nüchternem Magen das Laufen leichter würde. »Aber, lieber Mann,« sagte Frau Hase, »wozu all diese Vorbereitung? Daß du die Wette gewinnst, unterliegt doch keinem Zweifel?« – »Wohl wahr,« erwiderte der Hase, »aber ich will doch so glänzend wie möglich gewinnen; und da kommen auch endlich die beiden Zeugen – ade, liebe Frau, auf ein frohes Wiedersehen.« Und fort war er.

Sie gingen alle drei zur Schildkröte – auch diese war bereit. Als sie nun an der bestimmten Stelle im Walde ankamen, von wo aus es grade eine Meile bis zum großen Stein war, zählten die Zeugen: »Eins! zwei! drei! – los!« und Hase und Schildkröte setzten sich in Bewegung.

Als die Schildkröte so weit weg war, daß die Zeugen sie nicht mehr sehen konnten, kehrte sie ein wenig um und kam dann in einen schmalen Weg, der sie bald zu ihrer Wohnung führte. Da saß sie nun in guter Ruhe und wartete auf ihre Kinder.

Der Hase lief, und als er an die erste Biegung kam, wollte er sich einmal nach der Schildkröte umsehen – aber da hörte er plötzlich ihre Stimme, die ihm zurief: »Lauf, Häslein, lauf!« Er sah in seinem Schreck nur grade noch ihr Schild und beeilte sich nun doppelt so schnell vorwärts zu kommen. Aber an der nächsten Ecke rief es ihm schon wieder entgegen: »Lauf, Häslein, lauf!« Es wurde dem Hasen heiß beim immer schnelleren Laufen, und jedesmal, wenn er hoffte, nun einen bedeutenden[165] Vorsprung zu haben, mußte er bei einer neuen Biegung des Weges die Erfahrung machen, daß die Schildkröte dicht neben ihm war. Er raste nur so dahin, es schienen ihm Flügel gewachsen zu sein – nun konnte er den großen Stein schon sehen; noch einige Sekunden, und er war am Ziel. Aber da saß der große Sohn der Schildkröte, der seiner Mutter zum Verwechseln ähnlich sah, und rief aus Leibeskräften: »Gewonnen, gewonnen – ich habe gewonnen!« Da verließ den Hasen alle Kraft, und er fiel wie tot zur Erde – eine tiefe Ohnmacht, die Folge der furchtbaren Anstrengung und des letzten großen Schreckens, umfing ihn.

Mit großem Vergnügen sah die alte, schlaue Schildkröte eines ihrer Kinder nach dem anderen heim kommen. Alle erzählten ihr, wie der Hase so schnell über die Straßen an ihnen vorbeigelaufen sei. Zuletzt kam der große Sohn und meldete die Ohnmacht des Hasen. Die Schildkröte schüttelte bedauerlich den Kopf und sagte: »Ja, ja, man läuft nicht ungestraft mit der Schildkröte um die Wette.«

Am Nachmittag kam mit rotgeweinten Augen Frau Hase an. »Liebe, liebe Schildkröte,« flehte sie jämmerlich, »vergieb doch nur die Kränkung, die mein Mann dir wegen der kurzen Beine zufügte; ach, wir sind sehr unglücklich, mein Mann liegt an einer Lungenentzündung darnieder, und schon bestehen die Zeugen darauf, daß wir den versprochenen Preis geben sollen. Habe doch Erbarmen mit uns!« Die Schildkröte antwortete: »Ich will es mir überlegen, geh' nur heim und pflege deinen Mann, ich komme morgen.«[166]

Und sie kam – aber sie war ganz und gar versöhnlich gestimmt, denn sie nahm nur einen kleinen Teil von des Hasen Vermögen. »Aber merke dir das,« sagte sie zum Hasen, »man muß niemand wegen seiner Gestalt verhöhnen – so wie jedes von uns geschaffen ist, so ist es gut.«

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Aufgezeichnet und übersetzt von E. Meinhof.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 162-167.
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