Ein Tiermärchen1
Der Hase

[336] Ein Mädchen lebte mit seiner Mutter und seinem Vater in demselben Hause. Die Mutter verreiste und sprach zur Tochter: schaue nicht recht auf ihn; der Vater litt Hunger.[336]

Als die Mutter zurückkehrte, war der Vater abgemagert; da jagte die Mutter das Mädchen mit einem großen Korb in den Wald, damit es Sykomoren suche. Es kam zu einem großen Baume. Dieser Baum gehörte den Tieren; allein die Tiere waren abwesend. Das Mädchen füllte den Korb mit Früchten des Baumes. Abends kehrten dann die Tiere zurück und fanden das Mädchen noch auf dem Baume. Sie freuten sich sehr, weil sie hofften, Fleisch zu bekommen, wenn sie das Mädchen fressen würden.

Einige Tiere sagten: »Nicht jetzt, sondern morgen früh wollen wir es verspeisen.« Damit also das Mädchen nicht entwische, schliefen alle Tiere unter dem Baume.

Des Nachts erwachte der Hase; er stieg auf den Baum und fragte das Mädchen, ob es leben oder sterben wolle. Das Mädchen wünschte zu leben.

Der Hase sprach: »Wenn ich dich befreie, was giebst du mir?« Das Mädchen sagte: »Ich gebe dir alles, was du begehrst.«

Der Hase erwiderte: »Ich verlange von dir Hennen.« Das Mädchen sprach zu ihm: »Wie viele Hennen verlangst du?« Der Hase entgegnete: »Viele, viele.« Das Mädchen sagte: »Ja, sobald ich nach Hause komme.«

Nun stiegen beide herab und gingen in das Haus des Mädchens. Dann gab das Mädchen dem Hasen (so) viele Hennen, bis er zufrieden war. Der Hase nahm die Hennen und kehrte in den Wald zurück.[337]

Dort schlachtete er die Hennen und goß ihr Blut in eine kleine Schüssel. Nachdem er gefressen hatte, bis er satt war, kam er wieder zum Baume und nahm auch die Schüssel mit dem Blute mit.

Hierauf nahm er das Blut und bestrich damit die Schnauze der Hyäne und ihre Klauen; dann ging er schlafen.

Des Morgens erwachten alle, der Hase allein schlief scheinbar; allein er hörte alles. Die Tiere sprachen zu einander: »Jetzt wollen wir das Fleisch fressen!«

Allein das Fleisch war verschwunden! Alle fragten: »Wohin ist das Fleisch gegangen?« Dann weckten sie den Hasen und fragten: »Wo ist das Fleisch?« Der Hase sagte: »Ich weiß es nicht; aber gewiß hat es die Hyäne gefressen; die Hyäne hat Blut an Schnauze und Klauen.«

Einige Tiere ergrimmten über die Hyäne und schlugen sie; allein andere glaubten das nicht. Dann sprach der Hase: »Wir wollen eine tiefe und breite Grube machen, darin ein Feuer; alle Tiere sollen über das Feuer springen; diejenigen, welche hinabfallen, sind schuldig.«

Alle sprangen nacheinander hinüber, aber alle fielen hinab. Allein der Hase sprang nicht hinüber; er floh in den Wald, erfreut über seine List.

Im Walde begegnete er dem Fuchs. Beide suchten nun Baumfrüchte. Der Baum aber gehörte einem andern Herrn. Als dieser kam, die Früchte des Baumes zu pflücken, fand er (deren) wenige. Er glaubte, Diebe[338] hätten sie gestohlen. Diese wollte er nun fangen, wenn sie wieder kämen.

Er formte also eine Mädchenfigur aus Gummi und stellte sie auf den Baum hinauf. Des Nachts kamen Hase und Fuchs wieder, um Früchte zu fressen. Sie sahen das Mädchen auf dem Baume.

Der Hase stieg hinauf; allein das Mädchen war ganz still. Der Hase schlug auf das Mädchen, allein seine Pfoten blieben am Harze kleben. Dann schrie er: »Laß mich los, laß mich los!« Allein das Mädchen ließ ihn nicht los.

Dann rief er den Fuchs zu Hilfe. Nun stieg auch der Fuchs hinauf; allein auch er blieb kleben. Nun sprach der Hase zum Fuchs: »Wenn der Eigentümer des Baumes kommt und uns prügelt, was wirst du thun?«

Der Fuchs sprach: »Ich werde jammern.« Der Hase sagte: »Jammere nicht viel, sondern nur ganz wenig, dann stelle dich tot, damit er glaube, du seiest tot.«

Des Morgens kam der Eigentümer des Baumes und fand beide auf dem Baume. Nun stieg er hinauf und prügelte beide; der Fuchs jammerte sehr, bis er krepierte; der Hase aber jammerte (nur) ein bischen, dann stellte er sich scheinbar tot.

Dann nahm sie der Eigentümer, pflückte Früchte und legte sowohl die Früchte als die beiden Tiere in den Korb und trug den Korb auf dem Kopf nach Hause. Beim Gehen erwachte der Hase und wollte auch den Fuchs wecken; allein der Fuchs war tot.

Nun fraß der Hase viele Früchte im Korbe und[339] stellte sich wieder tot. Der Eigentümer kam heim und fand nur wenig Früchte; er wußte nicht, wie.

Nun legte der Eigentümer beide Tiere, mit Haut und Haar, in einen großen Topf, damit sie gekocht würden. Als das Wasser heiß, wurde, zersprengte der Hase den Topf, sprang heraus und entfloh. Der Eigentümer verfolgte ihn, aber umsonst.

1

Aufgezeichnet und übersetzt von Dr. I.C. Mitterrutzner.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 336-340.
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