Geschichte von einem alten Mann, der sechs Söhne hatte1

[311] Ein alter Mann rief seine sechs Söhne zusammen, und als sie gekommen waren, sprach er zu ihnen: »Ich habe euch gerufen, seid ihr alle sechs zu mir gekommen?« Sie antworteten und sprachen: »Ja, Vater, wir sind alle sechs zu dir gekommen.« Da fuhr er fort: »Hört mir zu, ich habe euch etwas zu sagen.« »Sprich, Vater, wir hören,« antworteten sie, und der Vater sprach zu ihnen: »Sagt mir, welchen Beruf ein jeder von euch erwählen will, um sein Leben zu fristen.«

Sie gehorchten dem Befehle ihres Vaters, und einer von ihnen stand auf und sprach zu ihm: »Ich will dir sagen, welchen Beruf ich wählen will, höre mir zu.« »Mein Sohn,« sprach der Vater, »sage nur, welchen Beruf du wählen willst, ich will dich anhören.« Da sprach er zu seinem Vater: »Ich will mich aufmachen und in des Königs Residenz gehen, daß der König mir ein Pferd gebe, denn ich liebe den Krieg.« Der Vater sprach:[311] »Das soll dein Beruf sein? – Gehe und setze dich, deinen Entschluß habe ich gehört.« Also ging er hinweg und setzte sich wie der hin. Nun stand ein anderer auf, trat vor seinen Vater und sprach: »Siehe, ich bin zu dir gekommen.« Der Vater sprach: »Da du zu mir gekommen bist, so will ich dich fragen, welchen Beruf du ergreifen willst, um dein Leben zu fristen.« Der Sohn antwortete seinem Vater: »Ich will dir den Beruf sagen, den ich wählen will, höre mir zu.« »Sprich, ich will dich anhören,« antwortete der Vater. Da sprach er: »Mein Vater, was mich betrifft, so soll Stehlen mein Beruf sein.« Und der Vater sprach zu dem Sohne, der das Stehlen liebte: »Stehlen wählst du dir als Beruf? – Gehe und setze dich, deinen Entschluß habe ich gehört.« Wieder stand einer auf und trat vor seinen Vater mit den Worten: »Ich bin zu dir gekommen.« Der Vater sprach: »Da du zu mir gekommen bist, so laß mich wissen, welchen Beruf du ergreifen willst.« Er antwortete und sprach: »Ich will Räuber werden.« Da sprach der Vater zu dem Jüngling, der das Räuberleben liebte: »Wenn du Räuber wirst, so hast du deinen Teil dahin; ich habe es gehört, gehe und setze dich.« Und der vierte stand auf und trat vor seinen Vater mit den Worten: »Siehe, ich bin zu dir gekommen.« Der Vater sprach zu seinem Sohn: »Du bist zu mir gekommen, wie ich sehe, und nun fordere ich dich auf, mich wissen zu lassen, welchen Beruf du bevorzugst.« Der Sohn sprach zu seinem Vater: »Mein Vater, höre und ich will dir sagen, welche Arbeit ich liebe.« Der Vater antwortete: »Sprich, mein Sohn, ich höre.« »Der Beruf,« erwiderte der Sohn, »den ich ergreifen möchte, ist folgender: Ich will mit meinen Eseln,[312] Lastochsen und Kamelen ausziehen und Handel treiben.« Da sprach der Vater zu seinem Sohne: »Gehe und setze dich, ich habe deinen Entschluß gehört.« Wieder stand einer auf, trat heran und sprach, als er vor dem Vater stand: »Vater, ich bin zu dir gekommen.« Der Vater antwortete: »Da du zu mir gekommen bist, so will ich dich fragen, welchen Beruf du erwählst, sage mir's, ich will dich anhören.« Der Sohn sprach: »Mein Vater, ich will die Landwirtschaft als Beruf ergreifen.« Da sprach der Vater zu dem Sohne, der sich zur Landwirtschaft entschlossen hatte: »Ich habe deinen Entschluß gehört, gehe und setze dich.« Endlich stand der letzte auf und trat vor seinen Vater mit den Worten: »Vater, sieh, ich bin zu dir gekommen.« Der Vater antwortete: »Da du zu mir gekommen bist, so will ich dich fragen, welchen Beruf du ergreifen willst, sage mir's, damit ich's weiß.« Der Sohn sprach: »Mein Vater, ich möchte Schmied werden.« Da sagte der Vater: »Mein Sohn, du liebst das Gewerbe eines Schmiedes; ich habe deinen Entschluß gehört, gehe und setze dich.«

Darauf rief der Vater seine sechs Söhne wiederum zu sich und sprach zu ihnen: »Steht auf, ich habe alle die Worte gehört, die ihr zu mir gesprochen habt. Geht nun heim und thue jeder die Arbeit seines Berufes. Später will ich euch wiedersehen.« Sie machten sich auf und gingen heim.

Der Jüngling, der den Krieg liebte, eilte nach des Königs Palast, der Jüngling, der das Stehlen liebte, ging und blieb für sich, ebenso der Jüngling, der den Handel, der, welcher die Räuberei, der, welcher das[313] Gewerbe eines Schmiedes und der, welcher die Landwirtschaft liebte.

Was nun den Jüngling betrifft, der den Krieg liebte und nach des Königs Palast gegangen und dort geblieben war, so geschah es, daß der König nach zwei Monaten die Nachricht von einem Krieg empfing, den eine heidnische Stadt gegen ihn erregt hatte. Er rief seine Soldaten zusammen, und als sie gekommen waren, sprachen sie zu ihm: »Gehorsam deinem Befehle, sind wir herbeigekommen.« Der König sprach zu ihnen: »Ich habe Nachricht von einem Kriege bekommen, mit dem eine heidnische Stadt uns überzieht, daher habe ich euch rufen lassen, geht nun heim, rüstet euch und morgen zieht gegen die Stadt zu Felde, die den Krieg erregt hat, nehmt die Leute gefangen und führt sie zu mir her.« Die Soldaten gehorchten dem Befehle des Königs, rüsteten sich und marschierten auf die heidnische Stadt zu.

Sobald die Heiden sie erblickt hatten, machten sie sich auf und zogen ihnen entgegen. Die Soldaten setzten sich in Bereitschaft, und die Heiden begannen die Schlacht, in der sie die Soldaten zurückschlugen, so daß das ganze Heer zerschmettert und in die Flucht geschlagen wurde; alle Soldaten flohen, und die Heiden setzten ihnen nach. Dabei wurde der Sohne des alten Mannes, der seinem Vater gesagt hatte, er liebe den Krieg, von den Heiden getötet. Die übrigen Soldaten eilten nach Hause und meldeten dem König: »Die Heiden der Stadt, gegen die du uns gesandt hast, haben uns verfolgt, so daß wir zu dir zurückkommen mußten.« Der König frug sie: »Wieviel Leute haben die Heiden getötet?« Sie antworteten:[314] »Sie haben nur den Sohn des alten Mannes getötet, der um des Krieges willen zu dir gekommen ist.« Da rief der König jemanden heran und befahl ihm: »Gehe und sage dem alten Mann, daß ich seinen Sohn, der bei mir lebte, in den Krieg gesandt habe, und daß er dabei getötet ist.« Der Bote ging hin und sagte dem Alten: »Vater und Greis, der König hat mich zu dir gesandt und mir befohlen, dir zu melden, daß dein Sohn, der zum König gekommen war, in den Krieg gezogen und dabei umgekommen ist.« Der Alte sprach: »Als ich meinen Sohn frug, welchen Beruf er wählen wollte, sagte er mir, er würde den Krieg vorziehen, nun hat er bekommen, was er wünschte.« So endet die Geschichte von dem Manne, der den Krieg liebte.

Der Dieb, der auf des alten Mannes Frage erwidert hatte, er liebe das Stehlen, machte sich Tag für Tag auf und stahl den Leuten ihr Eigentum, ohne zu merken, daß sie ihn überwachten. Einstmals kam er zu dem Hause eines Mannes, der sein Pferd angebunden hatte und schlief. So trat er (ungehindert) in das Haus ein, öffnete die Thür, band das Pferd los und war im Begriff, es wegzuführen. Aber als er heraustrat, erwachte der Eigentümer des Pferdes, sah ihn, hielt ihn fest und begann nach Hilfe zu schreien, so daß alle Leute in der Stadt erwachten, zu seiner Hilfe herbeieilten und den Dieb gefangen nahmen. Als der Mann sie frug, während sie den Dieb festhielten: »Was sollen wir mit ihm anfangen?« antworteten sie: »Auf der Stelle, wo du den Pferdedieb ergriffen hast, soll auch seine Strafe stattfinden.« Demgemäß schleppten sie ihn dorthin und hängten[315] ihn auf. Als sie ihn aufgehängt hatten, riefen sie einen Boten herbei und schickten ihn zu dem Alten mit dem Auftrage, ihm zu melden, daß sein Sohn ein Pferd gestohlen habe, dabei entdeckt, gefangen und gehängt worden sei. Der Bote kam und sagte dem Alten: »Vater und Greis, die Leute in der Stadt haben mich gesandt, um dir zu melden, daß dein Sohn ein fremdes Pferd losgebunden hat, welches an einen Pfosten gebunden war. Aber als er im Begriff war, es wegzuführen, er wachte der Eigentümer des Pferdes, ergriff ihn und schrie nach Hilfe, so daß alle Leute in der Stadt zu seiner Unterstützung herbeikamen, deinen Sohn ergriffen, ihn hinwegschleppten und aufhängten.« Der Alte sprach: »Als ich diesen jungen Dieb frug, welchen Beruf er vorziehen würde, sagte er mir, er liebe das Stehlen. Nun hat er bekommen, was er wünschte.« Dies ist das Ende von der Geschichte des jungen Diebes.

Der Kaufmann machte sich auf, traf seine Vorbereitungen zu Hause, belud seine Kamele, seine Esel und seine Ochsen mit Waren und unternahm eine Handelsreise. Er handelte in einer fernen Stadt und machte gute Geschäfte. Aber als er zurückkehrte, lauerten ihm Wegelagerer auf, nahmen ihm sein Geld ab und schlugen ihn tot. Dem alten Mann brachte man die Nachricht: »Vater und Greis, dein Sohn hat eine Reise unternommen und Handel getrieben, aber auf dem Rückwege haben sie ihm aufgelauert und ihn gemordet.« Da sprach der Alte: »Als ich ihn einst frug, welchen Beruf er vorzöge, sagte er, ich liebe den Handel. Nun hat er bekommen, was er wünschte.« So endet des Kaufmanns Geschichte.[316]

Der Räuber machte sich von Zeit zu Zeit auf, wenn die Leute aus der Stadt auf einen benachbarten Markt gingen und verbarg sich am Wege, und wenn er die Leute vom Markt heimkehren sah, hielt er sie an und nahm ihnen ihr Hab und Gut ab. Er wußte aber nicht, daß einige Leute ihm nachstellten. So zog er eines Tages wieder aus und verbarg sich auf dem Wege nach dem Markt, und da er zwei Leute vom Markt heimkehren sah, sprang er auf und hielt sie an. Aber als er sie plündern wollte, überwältigten sie ihn, schlugen ihn zu Boden und töteten ihn. Als der alte Mann die Nachricht hörte, daß der Räuber getötet sei, sprach er: »Ich habe den Jüngling einst gefragt, welchen Beruf er wohl ergreifen möchte, und er sagte, er liebe das Räuberleben. Nun hat er bekommen, was er wünschte.«

Nun blieben nur noch zwei übrig, der Landmann und der Schmied. Nach Verfluß von zwei Jahren rief der alte Mann einen Boten, sandte ihn aus und sprach: »Gehe und hole meine Söhne, ich möchte sie sehen.« Der Mann machte sich auf und als er an den Wohnort der Söhne des Alten kam, waren nur noch zwei übrig. Zu denen sprach er: »Ich komme zu euch, weil euer Vater mich geschickt hat, um euch alle zu sich einzuladen, denn er wünscht euch zu sehen.« Die beiden Söhne brachen auf und, nachdem sie angekommen waren, begaben sie sich zu ihrem Vater, dem alten Mann, und sprachen: »Siehe, du hast uns gerufen, wie ein Mann uns sagte; wir haben gehorcht, und deshalb sind wir hier.« Als ihr Vater hörte, was sie sagten, stand er auf, trat aus seinem Hause, und als er zu ihnen herankam und sie sah,[317] bemerkte er, daß das erste Mal, als er sie gerufen hatte, ihrer sechs zu ihm gekommen waren, während jetzt nur zwei Söhne seinem Rufe gehorcht hatten. Der alte Mann frug die beiden Söhne: »Kamen nicht eurer sechs zu mir, als ich euch das erste Mal rief? Warum kommt ihr jetzt nur zu zweien, wo sind die anderen vier?« Aa erzählten die beiden Söhne ihrem Vater das Schicksal ihrer vier Brüder2.

Da sprach der Alte zu seinen beiden Söhnen: »Nur ihr beide seid übrig? Welchen Beruf habt ihr gewählt?« Der eine stand auf und sprach zu dem Alten, seinem Vater: »Vater, als du mich frugst, welches Gewerbe ich treiben möchte, sagte ich dir nicht, daß ich die Landwirtschaft liebte?« Der Alte erwiderte seinem Sohn: »Ich danke dir, mein Sohn, du hast einen guten Beruf gewählt. Gehe und setze dich, mein Sohn, du bist klug. Nicht ich habe dir deine Klugheit gegeben, sondern der eine Gott.« Da stand der andere auf und sprach zu dem Alten: »Mein Vater, du hast uns gerufen.« Er antwortete: »Ich habe euch gerufen, und ich habe jetzt nur noch dich zu fragen, welchen Beruf du ausübst?« Der junge Schmied sprach: »Vater, als du uns früher alle sechs frugst, sagte ich dir nicht, daß ich das Handwerk eines Schmiedes am liebsten betreiben möchte?« Da sprach der Vater, der alte: »Du, mein Sohn, hast einen guten Beruf, halte ihn wohl in Ehren. Du bist klug; nicht ich habe dir deinen Beruf gegeben, sondern Gott[318] allein hat ihn dir gegeben, halte ihn wohl in Ehren. Wenn ich gestorben bin, werdet ihr, du, der Schmied, und dein älterer Bruder, der Landmann, euren Lebensunterhalt haben, und wenn euch Gott in Zukunft Frau und Kinder giebt und ihr euer Heim habt, so lehrt euren Kindern euer Handwerk.«

1

Aufgezeichnet von Kölle.

2

Verkürzt. Im Original wird beinahe alles Vorhergehende nochmals wiederholt.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 311-319.
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