Die beiden Schwestern

[326] Ein Mädchen sprach zu seiner Schwester: »Ich bin viel schöner als du.« Die Schwester antwortete: »Nein, ich bin schöner als du.« Da sprach die erste wieder: »Wenn du schöner bist, als ich, so laß uns in die Welt hinausziehen und sehen, wer die meisten Geschenke bekommt.« Ihre Schwester war's zufrieden. Sie machten sich also bereit und brachen auf. Wenn sie in ein Land kamen, frugen sie die Leute, wer die schönste wäre, dieser mußten sie Geschenke geben. Die einen fanden diese schöner, die anderen jene, und so bekamen beide Geschenke[326] in diesem Lande. Dann zogen sie in ein anderes Land, und auch hier erhielten sie beide von den Leuten Geschenke. So zogen sie weiter, und zuletzt hatte die jüngere Schwester viel mehr Geschenke empfangen. – Als sie viele Länder durchwandert hatten, machten sie sich auf den Heimweg. Unterwegs kamen sie an das Ufer eines Sees. Ihre Kühe, Ziegen und was sie sonst an Geschenken erhalten hatten, führten sie mit sich. Das Vieh lief zum Wasser und trank. Als es satt war, ging die jüngere Schwester Wasser zu schöpfen, da die ältere zu trinken begehrte. Als sie ihr das Wasser brachte, meinte die ältere Schwester, es tauge nichts, da die Schafe, Ziegen und Kühe da getrunken hätten. Sie möchte gehen und ihr gutes Wasser holen, sie selbst habe keine Lust, danach zu suchen. Das that sie aber, weil sie neidisch auf ihre Schwester war. Die jüngere kam zurück und bot ihr anderes Wasser. Aber auch dies wollte sie nicht trinken, sondern verlangte, ihre Schwester solle weitergehen. Diese machte sich abermals auf, kam an ein tiefes Wasserloch, fiel hinein und kam um. Die ältere Schwester aber nahm all ihr Eigentum an sich und brachte es nach Haus. Als man sie frug, wo ihre Gefährtin wäre, antwortete sie: »Sie ist umgekommen.« Die Leute fragen: »Wo?« »Im See,« antwortete sie. Nun trieb einmal ein jüngerer Bruder die Schafe an das Ufer des Sees und rief den Namen seiner Schwester und wünschte, sie möchte heimkehren. Als er ein Weilchen gewartet hatte, sah er sie aus dem Wasser heraus und auf ihn zukommen. Er bewillkommnete sie, und sie setzte sich nieder, kämmte sein Haupthaar und salbte es mit Öl. Dann sprach sie zu[327] ihm: »Ich muß heimwärts gehen.« »Wo ist deine Heimat?« frug er. Sie sprach zu ihm: »Ich gehe wieder in den See,« und sie tauchte unter und verschwand. Am Abend kehrte er nach Hause zurück und erzählte den Leuten, daß er seine Schwester gesehen hätte. Die Leute glaubten ihm nicht und beschuldigten ihn der Lüge. Am folgenden Tage ging er wieder hinaus, weidete seine Herde und rief den Namen seiner Schwester. Da kam sie heraus, ging auf ihn zu und begrüßte ihn und empfing seinen Gegengruß. So saßen sie lange Zeit zusammen. Am Abend verschwand seine Schwester wieder im See und er machte sich auf den Heimweg. Wiederum erzählte er den Leuten, daß er seine Schwester wirklich gesehen hätte. »Wenn ihr sie sehen wollt,« fuhr er fort, »müßt ihr euch in Schafe verwandeln. Dann wollen wir morgen hinausgehen, und ihr sollt ihrer ansichtig werden.« Die Leute waren es zufrieden. Als es zu dämmern begann, verwandelten sie sich in Schafe und gingen mit ihm auf die Weide. Auch sein Vater und seine Mutter hatten sich in Schafe verwandelt und gingen mit ihm. Am Ufer des Sees angekommen, begann er den Namen seiner Schwester zu rufen, und sie kam aus dem Wasser und begrüßte ihn. Sie setzten sich zusammen und plauderten miteinander, und sie sprach zu ihm: »Wahrlich, früher hattest du nicht so viel Schafe, wie jetzt.« Das wollte er nicht zugeben. Sie antwortete aber, sie glaubte ihm nicht. Während dessen weideten die Schafe, auch diejenigen, die sich in solche verwandelt hatten, und sahen sie an. Am Abend sprach sie zu ihm: »Jetzt muß ich heim.« Darauf kämmte sie sein Haupthaar, salbte es mit[328] Öl und machte ihm Flechten und dann ging sie heimwärts.

Nun frug er sie: »Habt ihr eure Tochter gesehen?« »Gewiß,« antworteten sie, »wir haben sie gesehen. Sie kämmte dein Haupthaar und salbte es mit Öl. Gewiß, sie war es.« Darauf beratschlagten sie, wie sie es anfangen sollten, um sie wieder zu bekommen. Es war ein Königssohn unter ihnen, der sprach zu ihnen: »Wenn es mir gelingt, sie aus dem See zu befreien, wollt ihr sie mir zum Weibe geben?« Das versprachen sie ihm. Darauf verwandelte er sich in einen Aussätzigen, sein Gesicht war häßlich und seine Hände voll Aussatz. Niemand aber wußte, daß er dies absichtlich that. Er sprach zu ihnen: »Wenn ich ins Wasser gegangen bin, und ihr seht, daß das Wasser weiß wird, so dürft ihr euch nicht freuen. Wenn ihr seht, daß das Wasser schwarz wird, so müßt ihr trauern und nicht fröhlich sein. Seht ihr aber das Wasser rot werden, dann seid wohlgemut.« Darauf nahm er sein Rasiermesser und seinen Dolch, ging in das Wasser und begrüßte des Mädchens Gemahl mit den Worten: »Wie befindest du dich, König des Wassers?« Dodo erwiderte, er befinde sich wohl. Darauf frug er ihn weiter, ob er ihn rasieren solle. Dodo war damit einverstanden. Darauf zog der Prinz sein Rasiermesser hervor, um Dodo zu rasieren. Die Leute sahen, wie das Wasser weiß ward und nach einem Weilchen bemerkten sie, daß es schwarz wurde und begannen zu weinen. Plötzlich schnitt der Prinz Dodo den Hals ab. Darauf ward das Wasser rot und die Leute begannen zu jauchzen und die Trommeln zu schlagen. Das Mädchen ward von dem Prinzen ihren[329] Eltern zugeführt, und sie weinten vor Freude, und er nahm sie zum Weibe und brachte sie in sein Schloß.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 326-330.
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