Die Geschichte vom Großadler und seinem Neffen Kleinadler

[281] Aller Federtiere König ist der Großadler. Weil er sein Volk wohl regierte, und seine Reichsgenossen gut behandelte, hatten sie alle ihn gern. Aber er hatte einen Neffen, namens Kleinadler, der war (kühn und) streng, so daß das ganze Volk ihn fürchtete; deshalb dienten sie auch dem König Großadler, wie sich gebührte.

Eines Tages nun berief Großadler sein ganzes Volk zusammen und sprach zu ihm: »Ich habe gesehen, daß ihr mich gern habt, und ich habe euch auch gern; und was wünschet ihr nun, daß ich für euch thue?« Das Volk (d.h. hier: seine Vertreter) erhob sich, ging zur Beratung abseits, kam und sprach zu ihm: »Du hast gesehen, daß wir dich gern haben und dir recht dienen; aber wenn du willst, daß wir dir völlig dienen, – das kann nur sein, wenn du deinen Neffen Kleinadler getötet hast; denn er ist's, der uns dir nicht recht dienen läßt.« Da saß Großadler lange schweigend und sagte (endlich) zu seinen Volksgenossen: »Nachdem ihr solches gesprochen, –[279] ich hab's gehört, – will ich's thun, denn das Volk ist gewichtig.«

Jetzt ließ Großadler sich eine Kiste machen, ritz seinem Neffen Kleinadler alle Schwungfedern aus, steckte ihn in die Kiste, streute die Federn alle umher und verbarg ihn in dem Hause, wo er seine Schätze aufbewahrte. Als nun die Leute Kleinadlers Federn sahen, so veranlaßte das ein allgemeines Gerede: »Man hat ihn getötet, man hat ihn wirklich getötet, jetzt ist's uns wohl.«

Als kurze Zeit vergangen war, fingen die Volksgenossen an, von Großadler abzufallen. Wer nach Wasser gehen sollte, ging nicht mehr; wer Holz holen sollte, holte keins mehr; die, welche die königlichen Würdezeichen zu halten (oder den Ehrendienst zu thun) hatten, waren alle davongelaufen. Da sagte Großadler: »Diese Sache gefällt mir nicht; rufet mir meine Hauptleute und Ältesten.« Jeder sagte: er komme nicht; sie hätten keine Zeit; um Kleinadlers willen hätten sie ihm einst viel gedient, weil sie ihn fürchteten; aber da er jetzt tot sei, dienten sie ihm ferner nicht mehr so; sie seien jetzt ihre eigenen Herren. Das verursachte Großadler viel Kummer; er trank und spielte bei drei Tage lang und sagte: »Es macht nichts.«

Nun ging's so fort, bis die Zeit kam, da er das jährliche Reinigungsfest zu halten hatte und alle seine Volksangehörigen wieder zusammenberief. Weil es das Jahresfest war, kamen sie auch zusammen, und Großadler empfing sie aufs schönste und gab ihnen viel zu essen und zu trinken. Als die Zeit kam, da er die Trinkversammlung hielt, fragte er sie wieder: »Aber das Wort, das ihr jetzt vor einem Jahr zu mir sprächet, gilt es[280] auch als richtiges Wort, oder ging es aus Mißachtung hervor?« Da gingen die Volksmänner zur Beratung, kamen und sagten: »Gerade wie wir sagten, so sagen wir noch; denn wir können den harten Dienst nicht dienen wie vormals.« Da sagte Großadler: »Nachdem ihr so gesprochen, – ich hab's zu Ohren genommen.«

Nun hatte aber, seit Kleinadler verborgen worden war, Großadler ihn oft besucht und danach gesehen, ob seine Schwingen wieder wüchsen; und bis zur Zeit, da er das Volk zusammenberief, hatte Kleinadler wieder völlig ausgewachsene Federn bekommen und war wieder ganz hergestellt.

Als nun das Volk dem Großadler also geantwortet hatte, stand er auf und ging heim und ließ ihnen wieder zu trinken bringen. Während sie aber daran waren, zu trinken und sich lärmender Lustigkeit hinzugeben, da kam Großadler mit der Kiste, in welcher Kleinadler sich befand, öffnete sie und ließ Kleinadler heraus. Als das Volk ihn also sah, da lagen sofort alle am Boden, und Kleinadler richtete sie übel zu. Alsdann sprach Großadler zu seinem Neffen Kleinadler: »Jetzt laß ab, daß ich hören möge, welches Wort mir das Volk zu sagen hat.« Da gingen sie alle sich zu verbinden und sagten: »Jetzt aber würden sie ihm besser dienen als zuvor.«

Und in der That, das Volk diente hinfort seinem König im rechten Dienst besser als vormals, und auch der König mäßigte seine Strenge und nahm sich seines Volkes an mit Liebe und Herzensgüte, so daß sein ganzes Volk Ruhe und Friede hatte.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 279-281.
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