Das Kind des Reichen und das Kind des Armen.

[9] Der Sohn eines reichen Mannes schloss einst Freundschaft mit dem Sohne eines armen Mannes. Des letzteren Vater und Mutter sagten oft zu ihm: »Du bist arm; weshalb schliesst Du Freundschaft mit dem Sohne[9] des Reichen?« Das Kind blieb jedoch dabei, die Freundschaft mit seinem Freunde, dem Kinde des Reichen, zu pflegen.

So lebten sie Tage und Monate zusammen, bis jener Freund zu ihm sagte: »Komm, lass uns ins Innere reisen!« Er erklärte sich damit einverstanden. Dann bereiteten sie Brot für die Reise, schliefen bis zum nächsten Morgen, beschleunigten ihre Abreise, bestiegen die Pferde und, nachdem sie zu Gott gebetet, lenkten sie die Pferde auf den Weg und zogen von dannen, bis sie dort anlangten, wohin sie wollten.

Sie kamen an einen weit abseits gelegenen Ort und trafen dort eine Menge Esel und Pferde. Da sagte der Sohn des Reichen: »Was machen wir mit diesen vielen Pferden? Wir wollen sie mit nach Hause nehmen und verkaufen, damit wir Geld bekommen und dies ganz nach unsern Wünschen verbrauchen.« Der Sohn des Armen sagte jedoch: »Das schickt sich nicht; das ist fremder Leute Eigentum, wir aber sind hierhergekommen, Handel zu treiben. Bleiben wir jedoch; vielleicht gehören sie Gott dem Herrn und sonst niemand, lass uns daher erst eine Frist von zehn Tagen abwarten. Gott wird es uns dann zu erkennen geben.« Sie liessen die Esel und Pferde in Ruhe und blieben dort.

Da erschien ein Hase, der kam bittend daher und sagte: »Ich bin arm, ich bitte Euch, ich bekomme nirgends etwas; was giebt es doch für Leute heute, was sind das für Ungläubige?« Der Hase musste selbst lachen, als er so sprach. Der Sohn des Reichen trat heraus und sagte: »Was soll das heissen? Weisst Du nicht, dass es schlecht ist, ›ein Armer, ein Armer‹1 zu[10] rufen, um alle Welt anzubetteln? Aber das ist so Sitte bei Euch Leuten, Ihr thut so, um mit allem reichlich versorgt zu werden.«

Die Antwort, die der Sohn des Reichen dem Hasen gab, hörte der Sohn des Armen und sagte: »Verstehst Du das nicht? Dieser Hase will gar nichts von uns; wenn Du keine Ahnung hast, so will ich es Dir sagen, er will den Zweck unseres Kommens erfahren, den Grund, weshalb wir hierher gekommen sind.« Der Sohn des Reichen sagte. »Wirklich, wenn dem so ist, dann ergreife und binde ihn!« Der Hase wurde ergriffen und gefesselt. Da sagte er: »Habt Ihr denn keine Kenntnis davon? Ich bin das Kind eines Königs. Mein Vater hat eine Tochter, und zwar eine sehr hübsche; er hat sogar deren zweie; sie sind für Euch. Wenn Ihr mich losbindet, werde ich jedem von Euch eine geben.«

Nach diesen Worten erwachte in beiden Jünglingen das Verlangen, denn sie waren schon viele Tage unterwegs und jeder von ihnen hatte Sehnsucht nach einer Frau. Sie banden den Hasen los und er lief in den Wald.

Als er zu Hause ankam, bereitete er alles zu einem grossen Kriege gegen die beiden jungen Leute vor. Und der Krieg kam zu stände gegen jene beiden. Sie hatten beide viel Koran gelesen und den Krieg vorausgesehen. Der Sohn des Armen sagte: »Was ist nun zu machen? Du, der Du der Eigentümer unserer Güter bist, weisst Du, wie Du Dein Eigentum verbergen kannst? Verstecke es, damit wir es wiederfinden, falls wir nicht getötet werden, denn diese Waren sind zum Handel notwendig. Der blosse Wille ohne Waren macht keinen Handel.« Er antwortete: »Ich weiss[11] keinen andern Rat, als unser Eigentum zu verteilen und unseren Feinden zu geben, mögen sie es fortschleppen, wenn wir nur unser nacktes Leben retten.« Der Sohn des Armen aber erwiderte: »Es ist nicht mein Wunsch, dass Du Dein Vermögen verlierst; wenn wir später nach Hause zurückkehren, könntest Du mir sagen ›mein Vermögen wäre nicht verloren gegangen, wenn der da nicht gewesen wäre‹. Eine solche Aeusserung Deinerseits möchte ich nicht.«

Als jene Leute sich kriegsbereit näherten, stellte sich ihnen der Sohn des Armen allein gegenüber.. Er sprang auf sein Pferd, nachdem er sich mit Schwert und Dolch umgürtet und Speer und Flinte erfasst hatte, er allein gegen sie, während der Sohn des Reichen sich im Walde versteckt hielt. Er kämpfte allein, ohne Waffengefährten, und trieb sie alle in die Flucht, so dass sie davonstürzten und entkamen.

Dann kehrte er zurück und suchte seinen Freund. Als er seiner ansichtig wurde, sagte er: »Ich habe sie verjagt, sie sind geflohen, eine Menge habe ich getötet. Jetzt nimm Dein Eigentum, es möchte sonst doch verloren gehen; es ist daher besser, wir ziehen nach Hause.«

Als sie unterwegs waren, sahen sie einen Hasen. Ob es der von früher war, weiss ich2 nicht, und sie ergriffen ihn und wollten ihn schlachten. Der Hase sagte: »Mein Fleisch ist ganz hart, das könnt Ihr wohl nicht essen; bindet mich mit einem Palmzweig, und zwar so, dass ich in der Sonne liege, dann wird mein Fleisch weich werden, Ihr werdet es gut essen können und es nicht hart finden.« Sie wurden betrogen. Denn als jener Palmstrick trocken wurde, zerriss er ihn und[12] lief fort in den Wald. Sie riefen hinter ihm her und sagten: »Der Hase hat uns hinters Licht geführt, wir sind von einem so kleinen Tierchen wie einem Hasen betrogen worden!«

Sie gingen nun ihrer Wege, bis sie in ihrer Stadt ankamen. Und ihre Väter und Mütter freuten sich sehr und fragten nach allem, was ihnen im Innern zugestossen, und sie erklärten alles und die Leute hörten ihnen zu.

Das ist mein Bericht über diese Erzählung, sie hat einen tiefen Sinn.

1

Die Bettler rufen den Vorübergehenden maskini, maskini! ein Armer, ein Armer! zu.

2

Der Erzähler.

Quelle:
Velten, C[arl]: Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stuttgart/Berlin: W. Spemann, 1898, S. 9-13.
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