Geschichte einer Frau, welche Vater und Sohn heiratete.

[195] In einer Stadt lebte ein Mann und sein Sohn, sie waren beide arm und hatten kein Vermögen. Der Sohn reiste in ein anderes Land, um sich seinen Unterhalt zu erwerben. Gott der Herr war mit ihm und gab ihm eine Frau, die er heiratete und mit der er in Frieden lebte.

Später nahm er Abschied von seiner Frau und sprach zu ihr: »Meine Frau, lebe wohl, ich reise in ein anderes Land, um mir Vermögen zu erwerben, damit wir gut leben können.« So reiste der Mann ab und begab sich nach einer entfernt liegenden andern Stadt. Dort blieb er acht Jahre, ohne einen Brief an seine Frau noch an seinen Vater zu schicken, noch irgend jemand während dieser acht Jahre, die er abgereist war, zu sehen. Genug, das Gesetz gab seine Frau frei und sie hielt ihre Wartezeit von vier Monaten und zehn Tagen inne, wie es das Gesetz vorschreibt.1

Nun machte sich der Vater dieses jungen Mannes von seiner Stadt auf den Weg, um seinen Sohn zu[195] suchen. Gott war mit ihm und führte ihn in jene Stadt, in welcher sein Sohn zuerst abgestiegen war. Er fragte die Leute daselbst: »Wo wohnt mein Sohn, der soundso heisst?« Sie antworteten: »Wir kennen Deinen Sohn nicht, der diesen Namen führt.«

Genug, sein Vater blieb in jener Stadt wohnen, in der Hoffnung, dort vielleicht Nachrichten von seinem Sohne zu erhalten. Gott fügte es nun so, dass jener Vater sich um die Frau seines Sohnes bewarb, die dem Gesetze nach wohl frei war. Er heiratete sie und zeugte mit ihr einen Knaben.

Als dieser das achte Jahr erreichte, kam jener Sohn, welcher verloren war, zur Stadt zurück und ging auf sein Haus zu. In der Nähe seines Brunnens angekommen, traf er einen Mann seines Ortes und sie erkannten einander. Er sprach zu ihm: »Willkommen! Bist Du heute zurückgekehrt? Wo kommst Du nach all diesen Jahren her?« Er antwortete: »Ich hatte mich verirrt, Gott hat mich nun wieder in meine Stadt zurückgeführt und ich bin im Begriffe nach meinem Hause zu gehen.« »So danke zunächst Gott«, erwiderte jener, »aber ein Haus hast Du nicht mehr, auch keine Frau mehr.« Er fragte: »Wieso denn das?« Jener antwortete: »Deine Frau ist nach dem Gesetze frei gegeben worden.«

Als er nach seinem Hause hinging und an der Thüre anlangte, sah er jenen Knaben, welcher gerade heraustrat, und er sprach zu ihm: »He Du mein Bruder von Vaters Seite her, sage Deinem Vater er sei mein Vater und der Mann meiner Frau!«

Der Junge hatte an der Thüre gestanden; er ging nun hinein in's Haus, um seinem Vater dies mitzuteilen. Als dieser das hörte, erriet er, dass sein Sohn, der nunmehr sechzehn Jahre verloren gewiesen war, zur[196] Stadt zurückgekehrt sei. Nachdem der Junge alles erzählt, ging sein Vater hinaus, um sich jenen Fremden anzusehen, welcher gekommen war. Sobald er ihn erblickte, erkannte er seinen eignen Sohn, den er sechzehn Jahre verloren hatte und den er aufsuchen wollte.

Genug, jene Frau wurde freigegeben, es wurde ihr die Scheidung wegen des Unerlaubten mit Vater und Sohn auf immer bis zum jüngsten Tage gegeben.

1

Nämlich ehe sie sich nach den Gebräuchen der Suaheli wieder verheiraten durfte.

Quelle:
Velten, C[arl]: Märchen und Erzählungen der Suaheli. Stuttgart/Berlin: W. Spemann, 1898, S. 195-197.
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