Der Waschkessel.

[130] Dschuha lieh sich einst von seinem Nachbar einen kupfernen Waschkessel, den behielt er vier oder fünf Tage, dann begab er sich nach dem Basar, kaufte einen ganz kleinen Kessel und brachte beide, den grossen und den kleinen, seinem Nachbar. Letzterer fragte: »Was soll es mit diesem kleinen Kessel?« Dschuha erwiderte: »Der grosse hat ihn geboren. Als ich den grossen von euch holte, fand ich ihn guter Hoffnung, und bei mir kam er nieder. Da habe ich dir den grossen und seinen Sohn wiedergebracht.« Der Nachbar nahm den kleinen Kessel an. – Dschuha kam nun eine Woche lang nicht zu seinem Nachbar, dann aber begab er sich wieder zu ihm und sprach zu ihm: »Leih mir den grossen Kessel noch einmal!« Der Nachbar gab ihm den Kessel. Dschuha nahm ihn mit, verkaufte ihn dann und verausgabte das Geld, das er für denselben erhalten hatte. Schliesslich schickte der Nachbar und verlangte seinen Kessel wieder. Dschuha entgegnete: »Er ist gestorben!« Der Nachbar fragte: »Wie soll er gestorben sein?« Dschuha antwortete: »Im Wochenbette!« Schliesslich begaben sie sich beide vor den Richter. Derselbe sprach zum Nachbar Dschuha's: »Was hast du, mein Sohn?« Der Gefragte entgegnete: »Dschuha hat mir meinen Kessel genommen und ihn verkauft.« Der Richter wandte sich an Dschuha mit den Worten: »Gieb den Kessel, der andern Leuten gehört, zurück!« Dschuha entgegnete: »Mein Herr, der ist im Wochenbette gestorben.« Der Richter fragte ihn: »Wie kann ein Kessel sterben?« Dschuha entgegnete: »Er brachte ein Kind zur Welt! Frag nur meinen Nachbar!« Der Nachbar begann: »Mein Herr, Dschuha kam früher schon einmal und lieh sich den Kessel[130] von mir; dann kam er wieder und brachte ihn richtig zurück und einen kleinen Kessel mit dem ersteren. Ich fragte ihn: ›Dschuha, was bedeutet der zweite Kessel?‹ Er entgegnete: ›Das ist das Kind von jenem; den hat jener geboren.‹ Als er sich aber zum zweiten Male den Kessel geholt hatte, brachte er ihn mir überhaupt nicht wieder.« Als ich ihn um denselben ersuchte, erwiderte er: ›Jener ist gestorben!‹ Da fragte der Richter: »Hast du denn das erste Mal das Kesselkind von Dschuha angenommen?« Der Nachbar erwiderte: »Warum sollte ich es nicht annehmen?« Da entschied der Richter: »Dschuha hat Recht! Denn was gebären kann, kann auch sterben!«

Quelle:
Stumme, Hans: Tunisische Märchen und Gedichte. Leipzig: Hinrich: 1893, S. 130-131.
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