Die fliehenden Kinder

Die fliehenden Kinder.1
Ein Hereromärchen.

[66] Es waren einmal mehrere Schwestern, die gehörten den Hereros an. Als sie mit ihren Eltern an einen Platz gekommen waren, der sehr schöne Weiden und viele Bäche und Flüsse hatte, fingen sie an, sich hübsche kleine Hütten an den Ufern des Wassers zu bauen, und in ihnen wohnten sie. Bald aber waren die Weiden von ihrem Vieh abgegrast, und die Hereros zogen deshalb weiter und nahmen auch ihre Kinder mit sich. Indessen waren sie noch nicht weit gewandert, als die Mädchen, welche sich[67] die Hütten gebaut hatten, beschlossen, wieder zurückzugehen; denn sie sehnten sich nach ihrem alten Spielplatz. Deshalb gaben sie die Lasten, welche sie zu tragen hatten, und die in Tüchern, Kochgeräten und Schemeln bestanden, an ihre Eltern und traten den Rückweg an. Als sie zu ihren Hütten gekommen waren, fanden sie, daß Bergdamaras Besitz von ihnen genommen hatten. Da fürchteten sich die Mädchen und versteckten die älteste Schwester. Sie hieß Cnihova. Als die Bergdamaras die Mädchen sahen, beschlossen sie, dieselben zu Weibern zu nehmen.

»Diese gehört mir,« sagte der eine.

»Und diese hier mir,« sagte ein anderer.

Schließlich war nur ein alter Mann übrig, der noch keine Frau hatte. Zufällig fand er die versteckte älteste Schwester und rief:

»Diese gehört mir!«

»Nein,« rief der Häuptling. »Sie soll auch noch mir gehören; denn ich bin euer Häuptling.«

Dann begaben sie sich zur Ruhe. Am folgenden Tage gingen die Damaras auf die Jagd. Nur der alte Mann blieb zurück. »Ich werde euch bewachen,« sagte er zu den Mädchen und legte sich quer vor die Schwelle der Hütte. »Solange ihr hört, daß ich grrrr, grrr, grrr sage, wißt ihr, daß ich noch nicht fest schlafe; hört ihr mich aber pfuh, pfuh sagen, dann bin ich fest eingeschlafen.« Da warteten die Mädchen, bis sie den Alten »pfuh, pfuh« sagen hörten. Dann standen sie auf, befestigten allen Zierat an den Gewändern, damit er keinen Lärm machen konnte und horchten noch mal, ob der Mann auch wirklich schliefe. Als sie dessen ganz sicher waren, schritten sie über ihn fort aus der Hütte hinaus, nahmen Asche und bestrichen sich mit ihr gegenseitig die Gesichter.

Der Häuptling der Damaras hatte einen großen[68] Stein vor der Hütte liegen, den benutzte er als Sitz. Diesen Stein nahmen die Mädchen und zerschmetterten mit ihm den Kopf des schlafenden Mannes. Dann gingen sie eilends fort und folgten den Spuren der fortgewanderten Hereros; denn sie wollten nicht bei den Damaras bleiben. Bald kamen sie an einen großen, flachen Felsen, der wie ein Haus aussah. Vor ihm stand das älteste Mädchen, welches Cnihova hieß, still und rief:

»Felsen, öffne dich!«

Darauf tat der Felsen sich auf und ließ die Mädchen eintreten, voran die, welche gerufen hatte.

Die jüngste der Schwestern hieß Cahavandye und folgte nach. Als sie alle in dem Felsen waren, schloß er sich wieder; aber der Raum in ihm war etwas eng für sie alle.

»Wenn es sehr eng hier wird,« sagte Cnihova zu ihren Schwestern, »so dürft ihr nicht schelten«.

»Wie,« rief Cahavandye, »nicht genug Raum will er uns geben, und wir sollen nicht einmal schelten? Es ist ein ganz abscheulicher Felsen!«

Dann schwiegen sie alle.

Als die Bergdamaras zurückkamen, fanden sie, daß die Mädchen alle verschwunden waren und den alten Mann getötet hatten. Sofort machten sie sich auf den Weg, um die Entlaufenen zu verfolgen. Als sie zu dem großen flachen Felsen kamen, konnten sie die Spuren nicht mehr sehen und fragten einander:

»In welcher Richtung mögen sie weitergegangen sein?«

Da hörten sie den leisen Klang der Glocke, welche das älteste Mädchen an ihren Kleidern trug.

»Was war das?« riefen die Damaras. »War es nicht der Klang einer Glocke? Oder war es die Stimme eines Vogels, die wir gehört haben? Sind sie aber fortgenommen,[69] so war es der Klang einer Glocke, und die Mädchen waren hier versteckt.«

Dann gingen sie wieder zurück zu den Hütten.

Sobald die Mädchen merkten, daß die Damaras fortgegangen waren, sprach Cnihova zu dem Felsen: »Öffne dich!«

Da öffnete er sich und ließ die Mädchen hinaustreten. Als aber Cahavandye, die jüngste der Schwestern, den andern folgen wollte, schloß er sich geschwind und hielt sie gefangen.

Die Mädchen nahmen nun von dem Felsen, was die Damaras dort hatten liegen lassen; aber ehe sie weitergingen, baten sie den Felsen:

»Gib uns unsre Schwester! Sie ist ein Kind und hat gesprochen wie ein Kind; ihre Worte haben kein Gewicht.«

Aber der Felsen öffnete sich nicht. So zogen denn die Kinder weiter und kamen nach langem Wandern dahin, wo ihre Eltern und Freunde sich niedergelassen hatten. Große Freude herrschte, und Feste wurden veranstaltet, weil die Mädchen und besonders die Älteste wiedergekommen waren. Von nun an blieben sie stets da, wo auch ihre Eltern waren.

Cavahandye, die in dem Felsen geblieben war, weinte bitterlich und rief fortwährend:

»Öffne dich, öffne dich! Ich habe gesprochen, wie ein Kind redet.«

Aber der Felsen erhörte sie nicht. Wenige Tage darauf kam ein Löwe des Weges, der rief den Felsen an:

»Öffne dich!«

Da gehorchte der Felsen. Als Cahavandye aus der Offnung heraustrat, verfolgte sie der Löwe; doch das Mädchen rannte, so schnell es konnte, und erreichte beinahe[70] den Platz, wo es seine Mutter und Schwestern zu finden hoffte. Da es aber vom Laufen ermattet war und in der Schnelligkeit nachließ, wurde es doch noch eine Beute des Löwen, der es verschlang. Als die Damaraleute zu dem Felsen kamen und ihre Schilder und Speere fort waren, wußten sie, daß es die Hereromädchen gewesen waren, welche sie genommen hatten; deshalb folgten sie ihren Spuren, aber sie erreichten sie nicht und kehrten wieder zurück.

1

Die Herero sind ein Nomadenvolk, daher in dieser Erzählung die Rede davon ist, daß sie, sobald ihr Vieh die Weide abgegrast hat, weiterziehen. Die älteste Tochter genießt in jeder Hererofamilie eine besonders bevorzugte Stellung und heißt allgemein »das große Mädchen«. – Mit den in dieser Sage angegebenen Lauten »grrrr, grrrr« und »pfuh, pfuh« sind jedenfalls die Schnarchlaute, die wir mit »sägen« und »blasen« bezeichnen, gemeint. – Eiserne Schmuckgegenstände tragen Hereroweiber oft an ihren Röcken; wenn sie kein Geräusch machen wollen, müssen diese befestigt werden. Eine kleine Glockenart trägt oft die Älteste einer Familie. – Die Herero und Damara stehen sich stets feindlich gesinnt gegenüber; der Herero betrachtet den Damara als tief unter sich stehend. – Neger gehen stets einer hinter dem anderen, und es ist rätselhaft, wie sie imstande sind, Unterhaltungen aufrecht zu erhalten, in denen z.B. der erste und siebente und der zweite und achte miteinander reden. In Familien wird bei dieser Art des Gehens das Alter innegehalten.

Quelle:
Held, T. von: Märchen und Sagen der afrikanischen Neger. Jena: K.W. Schmidts Verlagsbuchhandlung, 1904, S. 66-71.
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