Hundertundzweites Capitel.
Von den Uebertretungen der Seele und ihren Wunden.

[181] Einst war ein Kaiser Titus, in dessem Reiche ein gewisser edler Ritter lebte, der Gott sehr ergeben war und eine schöne Frau besaß, die ihm aber oft untreu war und nie von ihren Treulosigkeiten ablassen wollte. Wie Solches der Ritter gewahr wurde, trauerte er sehr in seinem Herzen und dachte das heilige Grab zu besuchen, und sprach also zum seinem Weibe: meine Liebe, ich will nach dem heiligen Lande ziehen und übergebe Euch Euerer eigenen Ehre. Wie er aber über das Meer gegangen war, da verliebte sich die Dame in einen Cleriker, der wohl in der schwarzen Magie erfahren war, und schlief bei ihm. Nun begab es sich einstmals, daß sie bei einander lagen und die Dame zu ihm sprach: wenn Du im Stande wärest, mir eine einzige Sache durchzusetzen, könntest Du mich zur Frau nehmen. Und jener versetzte: was ist denn das, was Du willst, so ich es irgend kann, will ich Dir zu Diensten seyn. Jene aber sprach: mein Mann ist nach dem gelobten Lande gezogen und liebt mich nicht besonders, so Du ihn durch eine besondere Kunst tödten könntest, würdest Du Alles, was ich habe, erhalten. Darauf erwiderte der Cleriker: ich will Dir zu Willen seyn, jedoch unter der Bedingung, daß Du mich zum Manne nimmst. Jene aber sprach: darauf nimm mein festes Versprechen. Der Cleriker[181] aber machte ein Bild mit dem Namen des Ritters, und hing es vor seinen Augen an die Wand auf. Während mittlerweile der Ritter durch eine Straße der Stadt Rom ging, begegnete ihm ein gewisser kluger Meister, sah ihn genau an und sprach zu ihm: mein Lieber, ich habe Dir etwas im Geheimen zu sagen. Jener aber entgegnete: Redet, Meister, was Euch beliebt. Der aber versetzte: noch heute wirst Du ein Kind des Todes seyn, so Du nicht Beistand von mir erhältst. Deine Frau ist eine Buhlerin und hat Deinen Tod angestellt. Wie der Ritter aber hörte, daß jener so die Wahrheit über seine Frau sprach, da hing er sich an ihn, glaubte ihm und sprach: o lieber Meister, rette mein Leben, und ich will Dir einen würdigen Lohn geben. Der antwortete aber: ich will Dich herzlich gern retten, so Du thust, was ich Dir heißen werde. Der Ritter aber sprach: ich bin berit. Hierauf ließ der Meister ein Bad zurichten, zog dem Ritter seine Kleider aus und hieß ihn in das Bad gehen. Nachher aber gab er ihm einen hellpolirten Metallspiegel in die Hand und sprach: siehe fleißig in den Spiegel und Du wirst Wunderdinge schauen. Wie der aber in den Spiegel blickte, während der Meister neben ihm in einem Buche las und zu ihm sprach: sage mir, was Du siehest, sagte er zu ihm: ich sehe in meinem Hause einen Cleriker, der von Wachs ein Bild gemacht hat, das mir ganz ähnlich ist, und an die Wand aufgehängt hat. Darauf sprach der Meister weiter: was siehest Du jetzt? Jener aber sprach: eben hat er einen Bogen ergriffen, einen spitzigen Pfeil auf denselben gelegt und fängt an nach dem Bilde zu schießen. Da sprach der Meister: so Dir Dein Leben lieb ist, so wirf, sobald Du einen Pfeil nach dem Bilde zu fliegen siehst, Deinen Körper in das Wasser des Bades, so[182] lange, bis ich Dir etwas Anderes heißen werde. Wie das der Ritter gesehen und gehört hatte, daß sich der Pfeil in Bewegung setzte, verbarg er seinen Körper gänzlich unter dem Wasser, und als er das gemacht hatte, sprach der Meister zu ihm: stecke Deinen Kopf heraus und schaue in den Spiegel. Wie er das gemacht hatte, sagte er zu ihm: was erblickst Du jetzt im Spiegel? Jener aber antwortete: das Bild ist nicht getroffen worden, sondern der Pfeil ist an der Seite desselben vorbei gegangen, und der Cleriker ist bekümmert. Darauf sprach der Meister: siehe jetzt wieder in den Spiegel, was er beginnt. Jener aber entgegnete: er ist jetzt näher nach dem Bilde zu gerückt und hat einen Pfeil auf den Bogen gelegt, um nach dem Bilde zu schießen. Jener aber versetzte: Gerade so, wie Du vorher gethan hast, so thue auch jetzt, wenn Du Dein Leben lieb hast. Als aber der Ritter im Spiegel sah, wie der Cleriker den Bogen spannte, steckte er seinen ganzen Körper in's Wasser. Hierauf sprach der Meister: siehe jetzt, wie es steht? Und als jener das gemacht hatte, sprach er: der Cleriker ist sehr traurig, daß er das Bild nicht getroffen hat und spricht zu meiner Frau, wenn ich das Bild zum dritten Male nicht treffe, muß ich deshalb mein Leben einbüßen. Eben rückt er noch näher an dasselbe, so daß es mir vorkommt, als könne es nicht fehlen, daß er das Bild treffen müsse. Darauf sprach der Meister: so Du Dein Leben liebst, sorge dafür, daß, sobald Du den Bogen angezogen siehst, Du alsbald Deinen ganzen Körper unter das Wasser steckst, so lange, bis ich zu Dir sprechen werde. Der Ritter schaute also unverwandt in den Spiegel, und wie er den Cleriker den Bogen zum Schießen spannen sah, fuhr er mit seinem ganzen Körper unter das Wasser, bis der Meister zu ihm sprach: komm schnell[183] heraus und siehe in den Spiegel. Wie aber der Ritter hineingeschaut hatte, lachte er, und der Meister sprach: Lieber, sage mir doch, was Du lachst. Jener aber antwortete: ich sehe ganz deutlich in dem Spiegel, daß der Cleriker das Bild nicht getroffen hat, der Pfeil aber umgekehrt ist, ihn zwischen der Lunge und dem Magen durchbohrt hat, und er eben gestorben ist: meine Frau hat aber unter meinem Bette eine Grube gemacht und ihn darin begraben. Da sprach der Meister: stürze Dich jetzt schnell heraus, lege Deine Kleider an und bitte zu Gott für mich. Der Ritter aber dankte ihm für die Rettung seines Lebens, und als seine Reise beendigt war, machte er sich wieder zu seinem Lande auf, und wie er nach Hause kam, da eilte ihm seine Frau entgegen und empfing ihn voller Freude. Der Ritter aber verstellte sich mehrere Tage lang, endlich aber schickte er nach den Eltern seiner Frau und sprach zu ihnen: meine Theuern, ich habe Euch aus folgender Ursache zu mir beschieden: hier ist Euere Tochter, meine Frau, welche Ehebruch an mir verübt hat, und was weit schlimmer ist, darauf umging mir den Tod zu geben. Jene aber leugnete es mit einem Eide, allein der Ritter begann jetzt und trug den ganzen Hergang und das Verfahren des Clerikers vor und sprach: wenn Ihr mir nicht glaubt, so kommt her und sehet den Ort, wo der Cleriker eingescharrt ist. Hierauf führte er sie in sein Gemach, und sie fanden den Leichnam des Clerikers unter seinem Bette. Der Richter ward alsbald herbeigerufen und entschied, sie solle durch Feuer verbrannt werden: und also geschah es, und die Asche ihres Leibes ward in die Luft gestreut. Nachmals aber nahm sich der Ritter eine schöne Jungfrau zur Gemahlin, zeugte mit ihr Kinder und beschloß sein Leben in Frieden.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 181-184.
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