Hundertunddviertes Capitel.
Von dem Gedächtniß der Wohlthaten.

[189] Es lebte einst ein Ritter, welcher die Jagd über Alles liebte, nun begab es sich aber eines Tages, daß er auf die Jagd gezogen war und ihm ein Löwe, welcher hinkte, in den Weg kam und ihm seinen Fuß zeigte. Der Ritter aber stieg vom Pferde und zog ihm einen spitzigen Dorn aus dem Fuße, legte Salbe auf die Wunde, und der Löwe ward wieder geheilt. Nach diesem aber jagte der König jenes Landes zufällig in demselben Walde, fing jenen Löwen und behielt ihn viele Jahre bei sich. Nun hatte aber jener Ritter sich gegen den König vergangen und sich in jenen Wald geflüchtet, wo er alle Durchreisenden plünderte und umbrachte. Indessen nahm ihn der König doch gefangen und fällte über ihn das Urtheil, man solle ihn dem Löwen zum Fressen vorwerfen, da dieser, wenn man ihm weiter keine andere Speise vorsetzen würde, wüthend gemacht den Ritter verschlingen werde. Wie nun der Ritter in die Grube des Löwen geworfen worden war, fürchtete er sich sehr und erwartete die Stunde, wo er gefressen werden würde. Der Löwe aber betrachtete ihn genau, und da er ihn erkannte, so schmeichelte er ihm und blieb sieben Tage lang ohne Speise. Wie das aber der König[189] gehört hatte, da wunderte er sich sehr, ließ den Ritter aus der Grube hervorziehen und sprach zu ihm: sage mir mein Lieber wie geht das zu, daß Dir der Löwe nichts gethan hat? Der aber sprach: Herr, ich ritt einst zufällig durch einen Wald, und es begegnete mir jener Löwe, der aber hinkte: ich zog ihm also einen Dorn aus seinem Fuße und heilte seine Wunde, und darum hat er mich, wie ich denke, verschont. Darauf sagte der König: Darum, daß Dir der Löwe kein Leid angethan hat, will ich Dich verschonen: bemühe Dich nur fortan Deinen Lebenswandel zu bessern. Jener aber bedankte sich bei dem König, besserte sich in jeder Art und beschloß sein Leben in Frieden.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 189-190.
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