Hundertundsechzehntes Capitel.
Von der Liebe Gottes, mit welcher er uns alle auf gleiche Weise umfängt, bis wir ihn durch unsere Sünden gering achten.

[220] Einst war Pipinus König, der ein sehr schönes Mädchen heirathete, welches von ihm schwanger wurde[220] und einen feinen Knaben gebar, aber bei dessen Geburt starb. Er heirathete nun eine andere und zeugte auch mit ihr einen Knaben. Er schickte nunmehr beide Knaben in entfernte Länder, um sie dort aufziehen zu lassen. Es waren sich aber diese Beiden in Allem ähnlich; wie nun aber eine geraume Zeit vorüber war, da wünschte die Mutter des zweiten Sohnes ihr Kind zu sehen und bat den König, daß sie ihren Knaben sehen dürfte. Der König aber gestand es ihr zu und bestellte einen Boten nach seinen beiden Söhnen. Wie aber die Knaben angelangt waren, waren sie sich in allen Stücken gleich, und obgleich der zweite als ein Jahr jünger und weniger alt hätte von geringerer Größe seyn sollen, so war er doch nichts destoweniger eben so groß als der andere, wie es oft zu gehen pflegt. Zufällig waren auch beide dem Vater an Gesicht und an Gleichheit des Körpers und Charakters ähnlich, so daß die Königin durchaus nicht wußte, welcher von beiden ihr Sohn war. Sie verlangte also von dem Könige genau zu wissen, welcher von ihnen ihr Sohn sey, der König aber wollte es ihr nicht angeben. Wie sie das hörte, weinte sie bitterlich, aber der König, wie er das hörte, sprach zu ihr: weine nicht, dieser hier ist Dein Sohn, und dabei zeigte er ihr den Sohn, den er von seiner ersten Frau bekommen hatte. Als das die Königin hörte, freuete sie sich sehr und wendete sogleich ihre ganze Sorge auf die Erziehung dieses Sohnes, und that mit ihm nicht anders, als wenn es ihr eigener Sohn gewesen wäre. Als aber der König dieses bemerkte, sprach er zu ihr: wie lasset Ihr Euch doch hintergehen. Der da ist nicht Euer Sohn, sondern nur einer von diesen ist es. Jene aber sprach: warum handelst Du so an mir? Zeige mir ihn, ich bitte[221] Dich. Und jener versetzte: nein, das will ich nicht, und zwar aus folgendem Grunde: hätte ich Dir die Wahrheit gesagt, so würdest Du nur Deinen eigenen zweiten Sohn lieb haben wollen und den andern hassen: deshalb will ich, daß Du beide gleich liebst und erziehst. Wenn sie aber zum männlichen Alter gekommen seyn werden, dann will ich Dir die Wahrheit eröffnen, über welche sich Dein Herz freuen wird. Wie das die Königin hörte, erzog sie dieselben bis sie zum männlichen Alter gelangt waren. Als sie nun aber durch den König erfuhr, welcher von ihnen ihr Sohn sey, freuete sie sich über alle Maßen, und also beschlossen sie im Frieden ihr Leben.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 220-222.
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