Hundertunddreißigstes Capitel.
Wie ein weiser Mann mehr ausrichtet als ein starker.

[254] Es gab einst einen König, der einen armen Mann zu großem Reichthum gebracht und ihm ein Schloß zur Bewachung anvertraut hatte: als der aber also erhöht worden war, wurde er sehr übermüthig, schloß mit den Feinden des Königs einen Vertrag und öffnete ihnen als Verräther die Burg. Der König aber ward sehr betrübt und hielt einen Rath, wie er seine Burg wieder bekommen könnte. Es wurde ihm aber gesagt, daß er das Schloß nicht wieder einnehmen könne, wenn er nicht Dreierlei hätte, Tapferkeit, Weisheit und Liebe verbunden mit Reichthum. Nun waren aber in seinem Reiche drei Ritter, von denen der eine tapferer war als die andern, der zweite weiser, der dritte aber den König sehr lieb hatte. Diese drei Ritter wurden aber mit Truppen abgeschickt das Schloß zu berennen. Der erste tapfere Ritter rückte mit einem großen Heere durch einen Wald, in welchem die Feinde des Königs waren, und fing an mannhaft gegen sie zu fechten, allein plötzlich flog ein Pfeil aus einem Wurfgeschütz, traf ihn in die Weichen, und so starb er. Nach ihm kam der kluge Ritter in den Wald und fing an das Recht anzuführen, indem er sie auf diese Weise veranlassen wollte, das Schloß zurückzugeben, allein indessen kam ein Pfeil, traf ihn zwischen der Lunge und dem Magen, und so starb auch er. Wie das der dritte Ritter sah, zog auch er in den Wald und begann freundliche Reden vorzubringen[255] und höflich zu sprechen, so daß sie ihn gern anhörten und durchziehen ließen. Indessen richtete er so viel bei ihnen aus, daß er die Erlaubniß zum Eintritt in die Burg erlangte, und sie vertrugen sich so mit einander, daß Alle herauszogen und im Lager mit ihm einen Bund machten. Also gewann er das Schloß nach einem Vertrage und pflanzte sein Fähnlein auf der Thurmspitze auf, und der König, wie er gehört hatte, daß er auf so kluge Weise sein Schloß gewonnen hätte, beförderte ihn zu großen Reichthümern.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 254-256.
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