Drittes Capitel.
Das gerechte Urtheil.

[4] Es herrschte einmal ein gewisser Kaiser, der das Gesetz gab, daß, wenn eine Frau ihrem Manne untreu geworden wäre, sie ohne Mitleid von einem hohen Berge herabgestürzt werden sollte. Nun begab es sich aber, daß eine Frau ihrem Gatten die Treue gebrochen hatte und nach dem Gesetze von einem hohen Berge hinabgestürzt worden war, allein sie gleitete so sanft den Abhang hinab, daß sie durchaus nicht beschädigt wurde. Sie wurde also vor Gericht geführt und der Richter, welcher sah, daß sie nicht gestorben war, gab den Befehl, daß sie noch einmal hinabgeworfen werden und sterben solle. Da sprach aber dieses Weib: Herr, wenn Ihr so thut, handelt Ihr gegen das Gesetz: dieses will, daß Niemand für ein Vergehen zweimal bestraft werden soll. Ich, die ich einmal die Treue verletzt hatte, bin einmal dafür vom[4] Berge hinabgestürzt worden und Gott hat mich auf wunderbare Weise gerettet. Darum darf ich nicht noch einmal hinabgestürzt werden. Da sagte der Richter: Du hast ganz klug Dich verantwortet: gehe hin in Frieden; und so wurde das Weib gerettet.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 4-5.
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