Fünftes Capitel.
Von der Treue.

[5] Es herrschte einst ein König, in dessen Reiche ein gewisser Jüngling von Seeräubern gefangen genommen worden war. Dieser schrieb seinem Vater, er solle ihn loskaufen; dieses wollte aber sein Vater nicht, und so schmachtete der Jüngling lange Zeit im Gefängniß. Der aber, welcher ihn gefangen hielt, hatte eine schöne Tochter, die aller Augen gefiel, gezeugt und diese war in seinem Hause auferzogen worden und hatte schon ihr zwanzigstes Lebensjahr erfüllt. Diese besuchte öfters den Gefangenen und tröstete ihn. Der aber war so untröstlich, daß ihn kein Trost aufrichten konnte, sondern stieß ohne Aufhören Seufzer und Klagen aus. Da begab es sich eines Tages, daß ihn das Mägdlein besuchte und der Jüngling zu ihr also sprach: O liebes Mädchen, wenn Du doch an meiner Befreiung arbeiten wolltest. Diese aber sagte: auf welche Weise werde ich sie erlangen können? Dein Vater, welcher Dich erzeugt hat, will Dich nicht loskaufen, ich aber, die ich Dir fremd bin, wie sollte ich darauf denken? und wenn ich Dich befreite, würde ich mir den Zorn meines Vaters zuziehen, weil er so Dein Lösegeld verlieren würde. Indessen gestehe mir eine Sache zu und ich will Dich befreien. Jener aber versetzte: O gutes Mädchen, verlange von mir, was Dir beliebt, wenn es mir möglich ist, will ich es Dir versprechen. Jene aber sprach: Ich verlange nichts Anderes für Deine Befreiung, als daß Du mich zur passenden Stunde zur Frau nimmst. Der aber sagte: ich verspreche Dir dieses bei meinem Worte. Sogleich befreite das[6] Mädchen ihn aus dem Gefängnisse und floh mit ihm in seine Vaterstadt. Als er aber zu seinem Vater gekommen war, sprach dieser zu ihm: O mein Sohn, ich freue mich sehr über Deine Ankunft, aber sage mir, was ist denn das für ein Mädchen, welches Du mitgebracht hast? Und jener sprach: es ist die Tochter des Königs, welche ich zur Frau habe. Da sagte sein Vater: bei Strafe des Verlusts Deines Erbes untersage ich Dir, selbige zu heirathen. Jener aber versetzte: O Vater, was sagst Du? An ihr hänge ich mehr als an Dir: denn als ich gefangen und schwer gefesselt in den Händen meines Feindes war und Dir wegen meiner Loskaufung schrieb, da wolltest Du für mich kein Lösegeld zahlen. Sie aber hat mich nicht blos aus dem Gefängnisse, sondern auch aus der Gefahr des Todes befreit, und darum will ich sie zur Frau nehmen. Der Vater aber sprach: mein Sohn, ich sage Dir, Du kannst ihr nicht trauen und sie folglich auch durchaus nicht heirathen. Sie hat ihren eigenen Vater hintergangen, da sie Dich ohne Wissen desselben aus dem Gefängnisse frei machte. Für diese Deine Befreiung aber hat ihr Vater Vieles verloren, was er für Dein Lösegeld hätte haben können. Also scheint es, als ob Du ihr nicht trauen dürftest und folglich sie auch nicht heirathen. Dann giebt es auch noch einen andern Grund. Daß sie Dich befreit hat, daran war ihre Wollust Schuld, weil sie Dich so zum Manne bekommen konnte. Darum nun, weil ihre böse Lust die Ursache Deiner Befreiung war, scheint es mir, als dürfe sie nicht Deine Frau werden. Als das Mädchen diese Gründe hörte, sprach sie: Auf Deinen ersten Grund antworte ich Dir, daß das nicht wahr ist, was Du sagst, daß ich meinen eigenen Vater hintergangen habe. Der aber wird hintergangen, welcher um ein Gut gebracht[7] wird. Mein Vater aber ist so reich, daß er Niemandes Unterstützung bedarf. Da ich dieses wohl erwogen, habe ich jenen Jüngling aus dem Gefängnisse befreit. Und wenn auch mein Vater für ihn ein Lösegeld empfangen hätte, würde er darum doch nicht reicher geworden seyn und Du wärest dennoch durch diese Loskaufung verarmt. Folglich habe ich bei jener Handlung Dich sicher gestellt, da Du somit kein Lösegeld bezahlt hast, und meinem Vater kein Unrecht zugefügt. Was nun aber Deinen zweiten Grund angeht, daß Du sagst, ich habe dieses aus böser Wollust gethan, so kann dieses auf keine Weise so seyn, weil eine Leidenschaft entweder der Schön heit, oder des Reichthums oder Ehrenstellen oder der Tapferkeit wegen entsteht. Dein Sohn aber besaß von alle dem nichts, weil seine Schönheit durch das Gefängniß vernichtet war; noch war er reich, da er nicht einmal so viel hatte, sich loszukaufen, noch war er tapfer, weil er seine Tapferkeit während seiner Leiden im Gefängnisse verloren hatte. Also bewegte allein die Frömmigkeit mich, ihn frei zu machen. Als dieses der Vater hörte, konnte er seinen Sohn nicht weiter anklagen. Also heirathete sie der Sohn mit größtem Gepränge und endete sein Leben in Frieden.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 5-8.
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