Achtundsechzigstes Capitel.
Wie man die Wahrheit bis zum Tode nicht verschweigen müsse.

[115] Es war einst ein König Gordianus, in dessen Reiche sich ein gewisser edler Ritter befand, der eine schöne Frau besaß, die aber ihrem Manne oft untreu war. Nun trug es sich eines Tages zu, daß der Mann sich auf eine weite Reise begab: diese ließ nun ohne Verzug ihren Buhlen holen. Es hatte aber diese Frau eine Magd, welche die Sprache der Vögel verstand. Wie nun der Liebhaber kam, waren damals gerade drei Hähne im Hofe. Um Mitternacht, als der Buhle neben der Frau vom Hause lag, fing der erste Hahn an zu krähen: wie das die Dame hörte, sprach sie zu ihrer Magd: sage mir, meine Liebe, was sagt denn der Hahn da in seinem Liede? Diese antwortete: der Hahn meint in seinem Gesange: Du thust Unrecht gegen Deinen Mann. Da[115] sprach die Frau: der Hahn muß sterben, und also geschah es. Einige Zeit nachher krähte der zweite Hahn und die Frau sprach zur Magd: was sagt der Hahn in seinem Gesange? Die Magd antwortete: mein Gesell ist für die Wahrheit gestorben, ich bin bereit auf die Wahrheit dessen, was er gesagt hat, zu sterben. Darauf entgegnete die Frau: tödte den Hahn, und also geschah es. Nachher krähte auch der dritte Hahn. Wie die Frau das hörte, sprach sie zur Magd: was sagt der Hahn in seinem Liede? diese antwortete: Schau, hör' und schweig dazu, so Du willst leben in Ruh. Darauf versetzte die Frau: diesen Hahn lasset leben.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 115-116.
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