Fünfundachtzigstes Capitel.
Wie unsere Rede eine liebliche Musik vor Gott ist.

[163] Einst herrschte der Kaiser Tiberius, der sich wundersam ergötzte, wenn er Musik hörte. Einstens begab es sich aber, daß er, als er zur Jagd ausgezogen war, rechts von sich Citherspiel hörte und durch die Süßigkeit desselben so erfreut wurde, daß er fast außer sich kam. Er wandte also sein Roß nach dem Orte, wo die Musik herkam und sprengte dahin. Wie er aber an die Stelle gekommen war, so erblickte er in einiger Entfernung ein munteres[163] Bächlein, und neben dem Gewässer saß ein armer Mann, der eine Cither in der Hand hielt. Aus jener Cither kam aber eine so unvergleichliche Musik heraus, daß der Kaiser vor Vergnügen ganz begeistert wurde. Es sprach also der Kaiser zu jenem: mein Lieber, sag mir doch, warum Deine Cither so lieblich klingt? Jener aber erwiderte: Herr, dreißig Jahre und darüber bin ich schon an diesem Gewässer, und Gott hat mir eine solche Gnade angethan, daß, sobald ich nur die Saiten meiner Cither berühre, eine so herrliche Melodie herausdringt, daß die Fische aus dem Wasser nach meiner Hand zu geschwommen kommen, durch welche ich mich, meine Frau und meine Familie ernähre. Allein wehe mir, es ist ein Jammer, daß seit wenigen Tagen von der anderen Seite des Wassers her ein Pfeifer kommt, der so süß bläst, daß die Fische mich verlassen und zu ihm gehen. Darum, o Herr, weil Ihr mächtig seyd und Kaiser des ganzen Landes, lasset mir Eueren Beistand gegen den Pfeifer zu Theil werden. Darauf entgegnete der Kaiser: mein Lieber, ich kann Dir nur in einem Stücke helfen und das muß Dir genug seyn. Ich habe hier in meinem Beutel einen goldenen Angelhaken, den will ich Dir geben, und Du magst ihn an die Spitze Deines Stabes befestigen lassen: berühre dann die Saiten Deiner Cither, auf deren Schlag sich die Fische in Bewegung setzen werden: diese ziehe alsbald vermittelst des Hakens an's Land, und der Pfeifer wird dir mit Beschämung Platz machen. Der arme Mann erfüllte Alles, und ehe noch die Fische zu dem Pfeifer gelangen konnten, zog er sie mit dem Haken an sich heran, der Pfeifer aber, als er das gewahr wurde, entfernte sich voller Verwirrung.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 163-164.
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