Neunzigstes Capitel.
Von der freien Entscheidung.

[168] In einem gewissen Lande gab es einst ein Gesetz, daß der ältere Bruder allemal das Erbe theilen, der jüngere aber wählen sollte. Der Grund lag aber darin, weil es größerer Besonnenheit zum Theilen bedarf, als zum Wählen, der Aeltere aber muß besonnener seyn. Nun war aber ein anderes Gesetz da, welches gestattete, daß der Sohn einer Magd eben so gut ein Erbtheil bekommen konnte, als die freigeborenen Söhne. Es begab sich aber, daß zwei Brüder, der eine von einer Magd, der andere von einer Freien, eine Erbschaft zu theilen hatten. Der ältere Bruder aber theilte so: er legte auf eine Seite das ganze Erbe, auf die andere aber stellte er die Mutter seines Bruders. Sein Bruder dachte nun: ich muß meine Mutter über Alles lieben, und folglich wählte er seine Mutter und ließ sein Erbe fahren, indem er von der Gutmüthigkeit seines Bruders etwas zu erhalten hoffte: allein er bekam nichts. Darauf ging er vor den Richter und klagte seinen Bruder an, daß er ihn von seinem Erbe ausgeschlossen hätte, der Bruder aber verantwortete sich und sagte, er habe ihn nicht betrogen, weil der, welcher wähle, nicht aber, der welcher theile, seiner Sache gewiß sey.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 168-169.
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