Einundneunzigstes Capitel.
Von der Faulheit und Trägheit.

[169] Einst war ein König, Namens Plinius, der drei Söhne gehabt haben soll, welche er ungemein liebte. Er dachte nun bei sich nach, wie er über sein Reich verfügen sollte, und rief seine drei Söhne zu sich, zu denen er also sprach: wer von Euch der faulste ist, der soll nach meinem Tode mein Reich empfangen. Darauf sprach der erste Sohn zu seinem Vater: gebt mir demnach Euer Reich, denn ich bin so faul, daß, wenn ich am Feuer sitze, ich mir lieber die Beine verbrennen lasse, als daß ich mich von da entfernen sollte. Der zweite Sohn sprach: wenn ich einen Strick um den Hals hätte und bald gehenkt werden sollte, in meiner Hand aber ein Schwert hielte, würde ich aus Faulheit meine Hand nicht ausstrecken, um den Strick zu zerschneiden. Darnach sprach der dritte Sohn zu seinem Vater: ich muß König werden, denn in Faulheit gehe ich allen Andern vor, wenn ich nehmlich auf dem Rücken in meinem Bette liege und Wassertropfen auf meine beiden Augen fallen, weiß ich aus Faulheit weder meinen Kopf nach rechts noch nach links zu drehen, noch will ich es auch. Wie das der König hörte, vermachte er ihm sein Reich, weil er meinte, daß er der Faulste sey.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 169-170.
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