Dritte Erzählung.
* (30).
Von zwei leiblichen Brüdern.

[134] Es waren einst zwei leibliche Brüder, der eine war ein Pfaffe, der andere ein Laie, und waren doch alle Beide in einem und denselben Kloster bei einander: der gelehrte vertrieb aber seine Zeit mit singen, lesen und schreiben. Nun sprach er eines Tages zu seinem Bruder, dem Laien, wie er sich die Zeit vertreibe, da er doch nicht gelehrt sey. Der antwortete aber und sprach: ich habe meine Tage nur drei Buchstaben gelernt, die ich aller Wegen in meinem Herzen und Gedächtniß habe, und ist einer von ihnen schwarz, der andere roth, der dritte weiß. Der erste ist das Gedächtniß meiner Sünden und ist schwarz und kreuzigt mein Herz, wenn ich bedenke, welcher Lohn denselben folgt, und die Seelenpein in der Hölle. Der andere ist roth, und ist das Gedächtniß des rosenfarbenen Blutes meines Schöpfers, welches er in seiner Gütigkeit an dem heiligen Kreuze für mich armen Sünder vergossen hat. Der dritte ist weiß, das ist die Begierde die himmlischen Freuden zu schauen, und dem, der dem Lamme nachgeht, mit weißem Kleide angethan. Da das der Bruder hörte, so nahm er ein Abbild der drei Buchstaben seines Bruders, und dachte fürder seiner Kunst nicht mehr, davon er sich vorher so gut getröstet hatte.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 134-135.
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