Hundertundneunundfünfzigstes Capitel.
Von der Erfindung des Weinstocks.

[71] Josephus berichtet in seinem Buche von den Ursachen der natürlichen Dinge, daß Noah den wilden Weinstock[71] fand, selbigen aber Labrusca nannte, von den Gränzen (Labra) des Landes und der Straßen. Da nun dieser bitter war, so nahm er das Blut von vier Thieren, eines Löwen, Lammes, Schweines und Affen, und machte mit Erde eine Art Mist daraus, den er an die Wurzeln des Weinstocks legte. Also ward aber der Wein durch das Blut derselben süß gemacht, worauf sich Noah nachher von demselbigen Weine berauschte, und da er entblößt dalag, von seinem jüngeren Sohne verspottet wurde. Hierauf versammelte er alle seine Söhne und sagte, er habe das Blut der genannten Thiere dahin gethan, um die Menschheit zu belehren. Denn viele Menschen sind durch den Wein zu Löwen geworden, ihres Zornes wegen, und haben dann keine Besinnung mehr, Einige werden aus Schaam zu Lämmern, Andere aber werden zu Affen, dessen Neugierde und unschickliche Lustigkeit sie annehmen. Denn der Affe nimmt sich vor alle Handlungen der Menschen nachzuahmen, macht sie aber verkehrt. Will man ihn also fangen, muß man bleierne Schuhe haben, und wenn er sieht, daß man sie an- und auszieht, und sie wieder fest anbindet, macht er es ebenso, wenn er aber nachher zu laufen sucht, wird er durch ihre Schwere zu Boden gedrückt und gefangen. Ebenso geht es aber vielen Leuten, denn während sie Vieles versuchen, bringen sie im Rausche kaum etwas vor sich, verderben aber und verwirren wie der Affe das Meiste.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 71-72.
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