1. Erzählung

Erste Erzählung.
([222] Cap. II. hier nach † I. p. LXIV. sq., bei Û II. p. 367. ganz kurz.)

Es war einmal in Rom ein edler Kaiser, mit Namen Diocletianus, der die Tugend der Barmherzigkeit über Alles liebte, weswegen er sehnlichst zu erfahren wünschte, welche Vögel ihre Jungen am Meisten liebten, in der Absicht, dadurch selbst in der Barmherzigkeit noch mehr zuzunehmen. Nun begab es sich eines Tages, daß der Kaiser, um sich die Zeit zu vertreiben, in einem Walde herumirrte und das Nest eines großen Vogels, des Namen Strauß ist, mit dessen Jungen fand; das nahm der Kaiser samt den jungen Vögeln mit sich und schloß es in ein gläsernes Gefäß ein, die Mutter des kleinen Vogels aber folgte ihm bis in den kaiserlichen Palast und flog in die Halle, wo ihr Junges war. Wie sie aber ihr Kleines sah und nicht zu demselben kommen konnte, noch es heraus bekommen mochte, da kehrte sie wieder in den Wald zurück und blieb daselbst drei Tage lang, am letzten derselben aber kam sie wieder in den Palast und brachte in ihrem Schnabel einen Wurm mit, genannt Thumare. Als sie aber dahin kam, wo ihr Kleines war, da ließ sie den Wurm auf das Glas fallen, und durch die Kraft dieses Wurmes sprang das Glas mitten entzwei, und das Junge flog mit seiner Mutter davon. Wie das der Kaiser sah, da prieß er die Vogelmutter gar hoch, daß sie so fleißig an der Befreiung ihres Jungen gearbeitet hatte.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 222-223.
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