Vierzehnte Erzählung.
([238] Cap. LXXXII. bei † p. CII. sq.)

Es war einmal in Rom ein gar mächtiger und barmherziger Kaiser, Namens Menelaus; der gab so ein Gesetz, daß wenn ein unschuldiger Mensch ergriffen und ins Gefängniß gelegt worden sey, so er entrinnen und in den kaiserlichen Palast kommen könne, dann soll er von jeglicher Anklage, die gegen ihn erhoben worden sey, frei seyn sein Lebelang. Nicht lange darauf aber, als dieser Befehl ergangen war, ward ein Ritter verklagt und gegriffen und in ein starkes und finsteres Gefängniß[238] gesperrt, wo er lange Zeit blieb und nur durch ein kleines Fenster Licht erhielt, durch welches nur eine kärgliche Helle hineindrang, welche ihm dazu diente, die geringen Speisen zu suchen, die ihm sein Hüter brachte: darum war er sehr traurig und bekümmert, daß er also beinahe ganz von jedem menschlichen Auge abgeschlossen blieb. Indessen wenn der Kerkermeister ihn verlassen hatte, da kam täglich eine Nachtigall auf sein Fenster geflogen und sang gar lieblich, so daß der unglückliche Ritter bei diesem Gesange oft vor Freude satt ward, und wenn nun der Vogel mit Singen aufgehört hatte, dann flog er in des Ritters Busen, und der Ritter speiste ihn manchen Tag von der Nahrung, die ihm Gott sendete. Nun begab es sich aber eines Tages, daß der Ritter ganz untröstlich war, demohngeachtet sättigte er den Vogel an seinem Busen mit Nußkernen und sprach zu ihm: mein süßes Vöglein, ich habe Dich nun schon manchen Tag gespeist, was willst Du mir nun in meinem Kummer für Trost geben? Erinnere Dich, daß Du ein Geschöpf Gottes bist und ich auch, und darum hilf mir in dieser meiner großen Noth. Wie das der Vogel hörte, da flog er aus seinem Busen heraus und blieb drei Tage lang weg von ihm, am dritten Tage aber kehrte er zurück und brachte in seinem Schnabel einen kostbaren Stein mit, den er in den Schooß des Ritters legte. Wie er aber selbigen an ihn gegeben hatte, da nahm er die Flucht und flog wieder fort von ihm. Der Ritter aber wunderte sich gar sehr über den Stein und den Vogel, nahm ihn aber sogleich in die Hand und berührte damit seine Eisen und Ketten, und sie fielen alsbald ab von ihm. Da sprang er auf und berührte damit die Thür seiner Kerkers, die öffneten sich, er wischte hinaus und lief geschwind nach dem Paläste des Kaisers. Wie[239] das aber der Hüter des Gefängnisses gewahr wurde, da stieß er dreimal in sein Horn und weckte das Volk in der Stadt und lockte es heraus zu sich, indem er mit lauter Stimme schrie: sehet an, der Räuber ist fort, lasset uns ihn alle verfolgen. Und mit diesen Worten eilte er allen seinen Begleitern voran dem Ritter nach. Wie er aber schon hinter ihm war, da spannte der Ritter seinen Bogen und schoß einen Pfeil nach ihm, mit dem er den Kerkermeister in die Lungen traf und ihn tödtete: dann aber stürzte er nach dem Palaste, wo er Hilfe wider das Gesetz fand.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 238-240.
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