Zweite Erzählung.
([223] Cap. XXI. nach † p. LXXII. sp. und Û II. p. 171.)

In der Stadt Rom regierte einmal ein gar weiser und mächtiger Kaiser, der hieß Theodosius, und hatte[223] derselbige drei Töchter; nun fiel es diesem Kaiser einmal ein, daß er kennen lernen wollte, welche von seinen Töchtern ihn am Meisten liebte. Und er sprach also zur ältesten Tochter: wie sehr liebst Du mich? Wahrlich, versetzte sie, mehr denn mich selbst. Darum, antwortete er ihr, sollst Du auch also erhöhet werden, und damit verheirathete er sie an einen reichen und mächtigen König. Nun kam er auch zu seiner zweiten Tochter und sprach zu ihr: meine Tochter, wie sehr liebst Du mich? Wahrlich, sprach sie, gerade wie mich selbst, und der Kaiser verheirathete sie an einen Herzog. Und endlich sprach er zu seiner dritten Tochter: wie sehr liebst Du mich? Wahrlich, erwiderte sie, so sehr, als Ihr es verdient, aber nicht mehr. Da sagte der Kaiser: meine Tochter, weil Du mich denn nicht mehr liebst, da sollst Du auch nicht eine so reiche und vornehme Heirath thun, wie Deine Schwestern: und er verheirathete sie an einen Grafen. Nun begab es sich aber, daß der Kaiser dem Könige von Aegypten eine Schlacht lieferte, und der König den Kaiser aus sei nem Reiche trieb, so daß derselbige keinen Platz mehr hatte, dahin er sein Haupt hätte legen können. Er schrieb also einen Brief mit seinem Siegelringe petschirt an seine älteste Tochter, die gesagt hatte, daß sie ihn mehr, denn sich selbst liebe, und bat sie, sie möchte ihm in dieser großen Noth zu Hilfe kommen, weil er aus seinem Reiche vertrieben worden sey. Wie aber die Tochter diesen Brief gelesen hatte, da theilte sie ihn dem Könige, ihrem Gemahl, mit. Der König aber sprach: es wird also gut seyn, daß wir ihm in dieser Noth beispringen. Er setzte hinzu: ich muß für ihn ein Heer und Hilfstruppen sammeln, ich mag nun können oder nicht, und das wird nicht ohne große Kosten abgehen. Nein, sprach sie, es wird hinreichend seyn, wenn wir ihm fünf[224] Ritter senden, die ihn begleiten, da er denn einmal aus seinem Reiche vertrieben ist. Und also geschah es: die Tochter schrieb an ihren Vater, er könne keine andere Hilfe erhalten, denn fünf Ritter, die ihn auf Kosten des Königs, ihres Gemahls, begleiten sollten. Wie das der Kaiser hörte, da bewegten sich alle seine Eingeweide und er sprach: o weh, o weh, all mein Trost war auf sie gesetzt, weil sie sagte, sie liebe mich mehr als sich selbst, und deshalb hatte ich sie so hoch erhoben. Er schrieb also an seine zweite Tochter, die gesagt hatte, sie liebe ihn eben so sehr als sich selbst; wie die seinen Brief gelesen hatte, zeigte sie die erhaltene Botschaft ihrem Gemahle an und gab ihm den Nach, er solle für Speise, Trank und anständige Kleidung sorgen, wie sie sich für so einen Herrn in der Zeit der Noth zieme. Und wie ihr der das bewilligt hatte, schrieb sie darüber einen Brief an ihren Vater. Der Kaiser aber betrübte sich sehr über diese Antwort und sprach: weil mich denn meine beiden ältesten Töchter also verrathen haben, so will ich auch die dritte prüfen. Und er schrieb an die dritte, die gesagt hatte, sie liebe ihn so viel als er es verdiene, und bat sie um Hilfe in der Noth, und theilte ihr auch die Antworten, welche ihm ihre beiden Schwestern gegeben hatten, mit. Die dritte Tochter aber, wie sie das Mißgeschick ihres Vaters erfahren hatte, sprach also zu ihrem Gemahle: mein verehrter Herr, wollet Ihr mir Euere Hilfe in dieser großen Noth zu Theil werden lassen? mein Vater ist aus seinem Reiche und Erbe getrieben worden. Der aber antwortete: was willst Du, daß ich thun soll? Sie antwortete ihm: Du mußt ein großes Heer versammeln und ihm gegen seine Feinde kämpfen helfen. Dein Wille geschehe, sagte der Graf, und versammelte ein großes Heer und zog mit dem Kaiser auf seine Kosten in den[225] Kampf und gewann den Sieg und setzte den Kaiser wieder in sein Erbe ein. Der Kaiser aber sprach: gesegnet sey die Stunde, die mir meine jüngste Tochter schenkte, ich liebe sie weniger denn die andern, und nunmehro hat sie mich in meiner Noth unterstützt und die an dern haben mich verlassen: darum soll sie nach meinem Tode mein Reich allein haben. Und es geschah also: nach des Kaisers Tode regierte die jüngste an seiner Statt und endigte ihr Leben in Frieden.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 223-226.
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