10. Sternsagen.

[289] Es wäre ein sonderbarer Mangel, wenn die Noahsagen nicht auch die Sterne in ihren Bereich gezogen hätten. Nachweisen kann ich indessen nur zwei. Die eine wird vermutlich als lebendige Volkssage nicht mehr existieren. Sie steht bei Kazwîni1 in jener für uns so wertvollen Kosmographie, die alles das enthält, »was der gebildete Vorderasiat des 13. Jahrhunderts von Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sternen, den vier Elementen und den drei Naturreichen zu wissen geglaubt und nicht gewußt hat«.2 Die Sage betrifft jene drei Sterne, die sich an der linken Hand des Wassermanns befinden (μ v ε). Die Araber nennen sie das Glücksgestirn eines Verschlingenden, weil man sie mit einem zum Verschlingen geöffneten Munde verglichen hat. Andere aber leiten nach Kazwîni den Namen davon her, daß das Gestirn in dem Zeitpunkt der Sündflut aufgegangen ist, wo gesagt wurde: O Erde, schlinge dein Wasser ein!

Die andere Sternsage hat Krauß bei den Südslawen3 gefunden. Als die Flut vorüber war, öffnete Noah die Arche und ließ die Tiere hinaus, ohne ihrer weiter zu achten. Der Wolf aber, der sich bisher zahm wie ein Lamm betragen hatte, benutzte die Gelegenheit, den Widder zu erwürgen und aufzufressen. Doch Gott, der Herr, dem nichts verborgen bleibt, erzürnte sich über die Untat. Und zum ewigen Gedächtnis der Menschen versetzte er den ruchlosen Wolf und das arme Schaf unter die Sterne.

Fußnoten

1 Übersetzt von Herrn. Ethé I, 79. Vergleichbar: Grünbaum, Ztschr. der deutschen morgenl. Gesellschaft 31, 230.


2 Ebd. S. VI.


3 Krauß, Märchen und Sagen der Südslawen I, 111 f.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 289.
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