6. Die Entstehung des Ungeziefers.

[279] Die Sage, daß die Schlange das Leck verstopfte, ist mehrfach ausgestaltet worden. Eine rumänische Fassung erzählt:


Als Noah in der Arche war, kam der Teufel und bohrte das Schiff an. Soviel Noah auch dagegen arbeitete, der Teufel war doch schneller. In dieser Not entstand in der Schlange ein Helfer. Sie verlangte aber als Lohn, daß ihr nach Abnahme der Flut für jeden Tag ein Mensch überlassen werde, nur dann wollte sie helfen. Noah versprach den Lohn. Die Schlange steckte nun in jedes Bohrloch ein Stück ihres Schwanzes, und so wurde das Schiff gerettet. Als nun nach der Sündflut die Schlange den Lohn verlangte, sah Noah die Unmöglichkeit ein, das Versprechen zu erfüllen. Deshalb schleuderte er die Schlange zur Strafe für ihre übermütige Forderung ins Opferfeuer. Aber Gott fand keinen Gefallen an dem aufsteigenden Rauch. Er schickte einen Wind, der die Asche über die ganze Erde hin zerstreute. Daraus sind die Flöhe entstanden, die sich auf die Menschen stürzen, um täglich einen zu verzehren, zur Erfüllung des Versprechens.


  • Literatur: Marianu, Insectele (Bukarest 1903), S. 405.

Bei einigen kurdischen Stämmen Kleinasiens gibt es folgende Version:


Während der Sündflut strandete die Arche Noahs auf einem Felsen und bekam ein Leck. Da nun Noah und die Seinen in Gefahr waren, den Fischen zum Opfer zu fallen, redete die Schlange Noah an und versprach ihm, sie werde ihm helfen, wenn er sie nach Abnahme der Flut mit menschlichem Fleische speisen würde. In seiner Verlegenheit willigte Noah ein, und die Schlange rollte sich in dem Loche zusammen, daß kein Wasser mehr ins Schiff fließen konnte. Als die Sündflut verlaufen war, forderte die Schlange ihre Belohnung.[279] Noah aber fragte in heller Verzweiflung den Engel Gabriel um Rat, und wie dieser ihm gesagt, warf er die Schlange ins Feuer, wo sie gleich ganz verbrannte. Die Asche warf er in die Höhe, daß die Winde sie wegbliesen. Sie verwandelte sich in kleine Insekten, es wurden Wanzen und Flöhe und derlei Ungeziefer daraus. Die plagen die armen Menschen bis zum jüngsten Tage, und auf die Weise genießt die alte Schlange ihre versprochene Speise.


  • Literatur: Forde, Corsica II, 174 f. Vgl. Am Urquell IV, 129 ff. Ebenso bei den Jesiden nach Dragomanov, Sbornik za nar. umotv. X, 63 = Menant, les Yézidis.

In der benachbarten europäischen Türkei wird dasselbe mit einiger Ausschmückung erzählt:


Die Schlange erbietet sich ein in der Arche entstandenes Leck zuzustopfen, aber nur unter der Bedingung, daß sie das Recht hätte, das erste Wesen, das aus der Arche käme, zu stechen. Notgedrungen nimmt Noah den Vor schlag an, und die Schlange rollt sich zusammen. Als die Arche gelandet ist, tritt Sem zuerst heraus. Noah ist in Verzweiflung, und um sein Kind zu retten, schlägt er die Schlange mit der Axt in Stücke. Da stürzen aus dem Körper des Tieres Myriaden schädlicher Insekten heraus, Stechfliegen, Pferdefliegen, Flöhe, welche Noah und seine Kinder stechen. Dies der Ursprung der Insekten.


  • Literatur: Revue des trad. pop. II, 369.

Wie die Heimat der drei Fassungen vermuten läßt, wird auch diese erweiterte Sage dem Islam angehören. Aber der Islam trug sie, wie ich glauben möchte, nicht nur nach Kleinasien und Südeuropa, sondern östlich zu den Annamiten. Unter den von Gaston Paris in der Zeitschr. des Vereins f. Volksk. XIII, 1 untersuchten Erzählungen von der undankbaren Gattin ist eine annamitische Version, die als eine starke Entstellung der Urform zu gelten hat, von besonderem Interesse. Ihr Inhalt ist kurz folgender:


Ein Ehepaar schwört, daß der den anderen überlebende Teil nicht wieder heiraten und die Leiche des Gatten bis zu ihrer Auferstehung bewachen soll. Als die Frau stirbt, läßt sich der Mann ein Floß bauen, auf das er den Sarg der Frau stellt, und fährt zum »westlichen Paradiese«. Buddha erweckt mitleidsvoll die Frau, befragt sie, ob sie ihren Gatten stets lieben wolle, und befiehlt, nachdem sie dies bejaht, dem Manne, sich in den Finger zu schneiden und seine Frau von dem Blute trin ken zu lassen. Auf dem Heimwege ereignet es sich, daß die Frau, während der Mann schläft, von einem chinesischen Schiff entführt wird. Der Mann verfolgt sie. Allein aus dem Schiffe ruft die Frau zu ihrem Gatten herab, sie habe sich dem Schiffsherrn vermählt, er möge ein anderes Weib nehmen. Der Mann kehrt zu Buddha zurück und klagt. Buddha sendet ihn wiederum zur Frau, damit er sein von ihr getrunkenes Blut zurückfordere. Beim Schiffe angekommen, ruft er der Frau zu, sie solle ihm die Tasse voll Blut zurückgeben, die sie von ihm getrunken habe. Die Frau speit das Blut aus, aber eine zu geringe Menge. Der Mann kehrt zu Buddha zurück, die Frau stirbt. Buddha verwandelt sie in eine Stechmücke. Und daher saugt die Stechmücke Blut, um das noch geschuldete Blut zurückzahlen zu können.


Gaston Paris vermutet (ebd. XIII, 23, Anm.), daß es eine andere, besser zusammenhängende Sage gab, die das Blutsaugen der Stechmücke[280] erklärte, und daß diese mit dem Märchen von der undankbaren Gattin plump verschmolzen wurde. Mir erscheint es durchaus einleuchtend, daß unsere Sage von der Entstehung des Ungeziefers es war, die in die annamitische Sage eindrang. Hier wie dort handelt sich's darum, daß ein Insekt von den Menschen Blut fordert als einen ihm notwendigen Tribut. Das eine Mal macht es Anspruch darauf, weil es eine von Noah versprochene Speise ist, das andere Mal, weil Buddha es so will. Auch kommt in beiden Fällen eine märchenhafte Schiffahrt vor. Bei einer, wie Gaston Paris richtig sagt, plumpen Verschmelzung mag das nicht unwesentlich sein.

Vom Ursprung des stechenden Ungeziefers erzählt noch eine andere Erweiterung der Schlangensage, die mit mongolischen Sagen1 in Zusammenhang steht und nicht nur in Kleinasien2, sondern auch bei den Sarten3, Südslawen4, Polen5 und Letten6 bekannt ist. Die vier letztgenannten Fassungen ergeben im großen und ganzen übereinstimmend folgende Sage:


In dem Kasten, in dem während der Sündflut Menschen und Tiere Zuflucht fanden, war ein Leek. Die Schlange will es verstopfen, wenn man ihr nach der Flut das Fleisch gibt, das das süßeste Blut enthält. Die Mücke übernimmt es, dies zu erkunden.

Abweichungen: Die südslawische Fassung sagt nichts vom Leck. Die Schlange machte sich in der Arche zu schaffen und überredete die Schmeißfliege, sie solle ausforschen, welches Tier das süßeste Blut habe. Die Polen und Sarten erklären die Entstehung des Lecks in der bekannten Weise, der Teufel in Gestalt der Maus habe es genagt. Bei den Polen gelobt Gott, nachdem die Schlange das Leck verstopft hat, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Bei den Sarten ruft die Schlange, als sie im Leck sitzt, die Katze zu Hilfe. Diese frißt die Maus. Noah verspricht, die Schlange zu belohnen.

Als die Mücke heimkehrt, fragt die Schwalbe sie, was sie erkundet habe. Die Mücke nennt des Menschen Blut. Sogleich reißt ihr die Schwalbe die Zunge weg, so daß sie nur noch summen kann. Als sie nun der Schlange den Bescheid vermelden will, bleibt sie unverständlich. Die Schwalbe erklärt, sie meine den Frosch. Seitdem frißt die Schlange Frösche.

Abweichungen: Die südslawische und die lettische Fassung geben an, daß die Schwalbe erst in dem Augenblicke auf die Mücke losfuhr, als sie der Schlange das Menschenblut nennen wollte. Das ist gewiß dramatischer. Aber dagegen spricht, daß auch in der kleinasiatischen Fassung (siehe unten) der Überfall unterwegs geschieht. Man sieht auch nicht ein, weshalb die Schwalbe so lange warten sollte, die Mücke zu überfallen. In Gegenwart der Schlange war die Sache viel gefährlicher. Endlich konnte die Schwalbe die Nennung des Frosches erst dann glaubhaft vorbringen, wenn sie – wie in der kleinasiatischen Fassung ausdrücklich gesagt ist – unterwegs, ehe die Mücke die Sprache verlor, diesen Namen angeblich erfahren hatte. Die südslawische Fassung verschweigt ferner, daß die Schwalbe den Frosch genannt habe,[281] und sagt: Weil die Schlange nicht erfahren hat, welches Blut das süßeste ist, so lauert sie seitdem auf alle Tiere.

Da ergrimmt die Schlange [denn sie ahnt eine List] und will die Schwalbe ergreifen. Doch die Schwalbe ist flink, und es gelingt der Schlange nur, ihr die Mitte des Schwanzes herauszureißen. Seitdem haben die Schwalben den Gabelschwanz, und die Menschen hegen Liebe zu ihr.

Abweichung: Die südslawische Fassung erwähnt nicht die Liebe der Menschen. Die Sarten fügen hinzu, daß die Katze noch jetzt die Mäuse verfolge und die Arglist des von ihr verschlungenen Teufels besitze.

Als Väterchen Noah diesen sauberen Handel erfuhr, nahm er voll Zorn einen Stecken, spaltete ihn oben ein wenig und zwängte die Schlange hinein, nahm sie und legte sie ins Feuer, daß sie verbrenne. Während sich die Schlange langsam briet, sprangen ihr die Schuppen vom Leibe ab. Aus den weißen Schuppen entstanden die Läuse und aus den schwarzen die Flöhe. Darum rasten und ruhen die Läuse und Flöhe nimmer, sondern zapfen den Menschen, wo sie nur können, das Blut ab, wie es einst die Schlange gewollt hatte.

Abweichung: Dieser Schluß ist nur in der südslawischen Fassung vorhanden.


Dieser vierfachen Überlieferung von der Schlange, der Mücke und der Schwalbe steht die kleinasiatische gegenüber. Sie bietet nicht wesentlich Neues, verändert aber den Schauplatz der Handlung.


Salomo, heißt es dort, hat als Herrscher aller Dinge einem jeden Wesen die Nahrung bestimmt, von der es leben soll: der Schlange das Blut des Menschen. Auf die Klagen der Menschen entsendet Salomo die Mücke, um zu erkunden, welches das zarteste Blut der Welt sei. Das solle die Schlange erhalten. Das folgende wie oben. Als die Mücke zu Salomo zurückkehrt, entreißt die Schwalbe ihr unterwegs die Zunge. Niemand versteht den Bescheid, den sie bringt. Die Schwalbe erklärt, daß die Mücke ihr, ehe sie die Sprache verloren, das Ergebnis ihrer Nachforschungen mitgeteilt habe. Froschblut sei das zarteste. Dreierlei wird am Schluß erklärt: die Froschnahrung der Schlange, der Gabelschwanz der Schwalbe, die Liebe des Menschen zu ihr.


Diese Übertragung auf Salomo, auf die wir im 17. Kapitel noch einmal zurückkommen, ist leicht erklärlich, da dieser bekanntlich eine sehr bedeutende Rolle in der Sagenwelt des Islams spielt.

Eine gewisse Ähnlichkeit mit dieser Version hat eine weißrussische, in der die Tiere sich versammeln und ratschlagen, welches Blut am schmackhaftesten sei. Sie kosten von allem, nur nicht von dem Menschenblut. Da befragen sie die Mücke. Aber eine Schwalbe fängt sie und verhindert, daß die Tiere die Kunde von der Süßigkeit des Menschenblutes erfahren.7

Auf Noah als den Urheber des Ungeziefers bezieht sich auch eine sizilianische Sage.8 Noah hatte alle Arten Tiere in die Arche aufgenommen. Am ersten Tage, als er ihnen ihr Futter austeilen wollte,[282] hörte er eine feine Stimme, die auch ihr Teil begehrte. Wer bist du? fragte er. – Ich bin die Laus. – Wovon lebst du? – Vom Schimmel. – Die Arche ist noch neu, und es gibt keinen. Halte deine Mahlzeit von dem, was du findest. – Seit dieser Zeit lebt die Laus auf dem Kopfe des Menschen.

Endlich gehört noch ein Schwank aus Schwa ben9 hierher, worin der Schneider den stechenden Insekten die Stacheln einsetzt, die sie seitdem behalten haben.

Fußnoten

1 Sumcov, Etnografičeskoje Obozrěnie XVII, 178 ff. Vgl. unten Kap. 17.


2 Carnoy-Nicolaides, Trad. pop. de l'Asie mineure p. 227 = Revue des trad. pop. 1, 80. (Von einem Circassier auf Lesbos.)


3 Sumcov, ebd. 179.


4 Krauß, Märchen und Sagen der Südslawen II, 153 f.


5 Wisła XIV, 485.


6 Bei Lerchis-Puschkaitis I, S. 173, Nr. 166.


7 Federowski, Lud białorusski I, 688.


8 Revue des trad. pop. II, 373 = Guastella, Le Parità Nr. 6.


9 Ernst Meier, Volksmärchen aus Schwaben S. 122 = Dähnhardt, Naturgesch. Volksmärchen2 S. 48.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 283.
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