I. Eine äsopische Fabel in christlichem Gewande.

[242] Zu den interessantesten Mariensagen gehören solche, die sich mit einer äsopischen Fabel verbunden haben. Ihre Entwicklungsgeschichte erfordert freilich ein weites Ausholen, ehe die Verschmelzung dargelegt werden kann, aber der lange Weg der Beweisführung lohnt der Mühe.


A. Fabeln ohne Maria.

Äsop erzählt, daß Zeus alle Tiere mit ihren Jungen vor sich kommen ließ, um zu entscheiden, welche Mutter den Preis verdiene. Auch die Äffin erscheint und erregt mit ihrem häßlichen Sprößling das Lachen der Götterversammlung. Sie aber ruft aus: Ζεὺς μὲν οἶδε τὴν νίκην· ἐμοὶ δὲ πάντων οὗτός ἐστι καλλίων, oder wie es in der deutschen Bearbeitung Steinhöwels heißt: »Obrister got, du kennest, daz der sig an mir ist; und ob ieman anders hoffnung hette zuo synem kind, so ist doch myn urtail, daz myne kind über alle kind die schönsten synt.«


  • Literatur: Aesop Nr. 364 (Halm) = Babrius 56. Danach Avian 14, nach diesem Steinhöwel 125, Boner 79, Burkhard Waldis 1, 81 (mit Anm. von Kurz).

Eine leichte Änderung dieses dankbaren Stoffes weist eine lateinische Bearbeitung auf. Die Affenmutter kommt vor den Löwen und hofft auf dessen Lob. Aber mit Lächeln erwidert er: Dir scheint mir mehr merkwürdig als lobenswürdig. (Daran schließt sich, locker angeknüpft, eine Fortsetzung, die von einer anderen Fabel herstammt.)


  • Literatur: Romulus app. 36 (Oesterley, mit Anm.) = Hervieux, Les fabulistes latins 2, 528.

Wie hier an die Stelle des Götterkönigs der Tierkönig getreten ist, so finden wir anderswo auch den Beherrscher der Vögel, den Adler; als verblendete Mutter erscheint nunmehr die Eule. Diese Fabel steht bei Abstemius: Der Adler hat in einer Vogelversammlung erklärt, er wolle die schönsten Vogelkinder zu seinem Hofgesinde erwählen. Nimm die[242] meinigen, sagt die Eule, denn sie überragen alle durch Schönheit. Wie sehen sie denn aus? fragt der Adler. Wie ich, antwortet die Eule. Und alle lachen sie aus.


  • Literatur: Neveleti, Mythologia Aesopica 1610 p. 583.

Noch einen Schritt weiter, und wir gelangen zu Lafontaines Fabel ›L'aigle et le hibou‹ (5, 18), in der die Eule den Adler bittet, das Leben ihrer Kinder zu schonen. Auf die Frage, wie er sie von den übrigen Vögeln unterscheiden könne, erwidert sie: Es sind die schönsten. Als der Adler gleichwohl die Jungen frißt, klagt sie ihn bei den Göttern an, aber es wird ihr die Antwort:


N' en accuse que toi

Ou plutôt la commune loi

Qui veut qu'on trouve son semblable

Beau, bien fait et sur tous aimable.

Tu fis de tes enfants à l'aigle ce portrait:

En avoient-ils le moindre trait?


  • Literatur: Variante bei Robert, Fables inédites (1825) 1, 348 (Fuchs' und Krähe). Vgl. auch Verdizotti, Cento favole morali 1577 Nr. 5: L'aquila e il guffo.

Eine andere Version setzt mit gutem Geschmack den räuberischen Habicht statt des königlichen Adlers ein.


  • Literatur: Desbillons, Fabulae Aesopicae 8, 4: Accipiter et noctua.

Sehen wir uns nun in der Volksüberlieferung um, so haben wir zunächst eine rumänische Fabel der des Abstemius an die Seite zu stellen.


Nachdem Gott die Welt geschaffen hatte, versammelte er alle lebenden Wesen mit ihren Sprößlingen, um selbst zu sehen, was jedes seiner Geschöpfe hervorgebracht hatte, und sie zu belohnen. Schon hatte er alle Tiere an sieh vorbeiziehen lassen, da stellte sich die Krähe mit ihrem Jungen vor. Als Gott sah, wie häßlich das war, sprach er: Es ist unmöglich, daß dein Junges mein Geschöpf sein soll. Es ist zu häßlich und zu schmutzig. Geh und suche ein anderes. Schmerzerfüllt suchte die Krähe überall auf Erden, aber nirgends fand sie ein niedlicheres. Abermals kam sie zu Gott und erklärte ihm rund heraus: ihr Junges sei der Gipfel der Schönheit, und es sei schlechterdings kein schöneres zu finden. Du hast recht, sagte Gott, so sind alle Mütter; und er bedachte auch sie und ihr Junges.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 9, 620.

Während diese Erzählung noch deutlich an Äsop anklingt, zugleich aber, indem ein häßlicher Vogel auftritt, auch an Abstemius erinnert, so stellt sich eine polnische Version neben die Fabel von Lafontaine und deren Parallele vom Habicht und der Eule. Doch zeigt sie (und damit begegnet uns zum erstenmal diese einschneidende Änderung) jenen ätiologischen Schluß, der für den Volksgeschmack so überaus charakteristisch ist.


Gott befahl dem Habicht, kleine Vögelchen zu fressen. Als die Eule das hörte, war sie entsetzt, daß er ihre Kinder rauben werde, lud den Habicht ins Wirtshaus[243] ein, gab ihm zu trinken und bat ihn, er möchte ihre Kinder in Ruhe lassen. Woran kann man deine Kinder erkennen? fragte der Habicht. – Daran, daß sie die schönsten sind, gab sie zur Antwort. Lange flog nun der Habicht umher und suchte seine Nahrung, bis er einmal den kleinen Eulen begegnete. Da sie aber sehr häßlich waren, fraß er sie auf. Seitdem fliegt die Eule nicht bei Tage, sondern nur in der Nacht herum, aus Scheu, daß man sie verhöhnen könnte.


  • Literatur: Zbiór wiad. do anthrop. krajowej. 5, 131, Nr. 17. Stau. Ciszewski, Krakowiacy 1, Nr. 274.

Man sieht, wie die Fabel zur Natursage geworden ist. Das Motiv der Feindschaft der Vögel, die die Eule verfolgen, kommt in zahlreichen Volksüberlieferungen vor, und oft dient es – genau so wie hier – zur Begründung des lichtscheuen Wesens der Eule. In weiterem Zusammenhang sind auch alle die Sagen zu nennen, die sich mit den Ursachen der Lebensweise der Tiere beschäftigen. Sie bevorzugen namentlich, die Scheuen, die Gespenstigen, wie denn überhaupt das Ungewöhnliche in der Natur weitaus den meisten Sagenstoff geliefert hat.


Variante aus Malta.


Er war einmal ein Jäger, der in den Wald ging. Unterwegs begegnete ihm die alte Eule und sprach: »Du gehst wohl in den Wald, um zu jagen? Welche Tiere willst du erlegen?« Worauf der Jäger entgegnete: »Ich möchte gerne Vögel schießen, die schönsten und fettesten!« Aber da fing die Eule laut zu schreien und zu weinen an und rief: »Die schönsten, fettesten Vögel! Das sind ja dann meine Jungen! Bitte versprich mir, nur häßliche, magere Vögel zu schießen, damit meine geliebten Kinder unversehrt bleiben! Versprich es mir!« Da versprach es der Jäger, der weichherzige, und fragte: »Wie sehen denn aber deine Kinder aus? Haben sie ein schönes Gefieder und einen hübschen, runden Leib?« »Jawohl!« versetzte die Eule; »du brauchst dich gar nicht viel zu erkundigen: die schönsten, bestgestalteten Vögel, die du zu sehen bekommst, sind meine Kinder. Häßliche kannst du ruhig schießen.« Da begab sich der Jäger wohlgemut in den Wald und schoß eine Menge häßlicher Vögel. Auf dem Rückwege kam ihm die alte Eule wieder entgegen. Er zeigte ihr die toten Vögel. Aber da fing die Eule an furchtbar zu schreien und zu weinen und rief in einem fort: »Du hast mir meine Kinder getötet, meine schönen, runden Kinder! Du hast mir die Freude meines Lebens genommen, das Licht meiner Augen. Und doch gabst du mir das Versprechen, nur magere, häßliche Vögel zu schießen!« Der Jäger versetzte: »Ich suchte mir die abscheulichsten unter den Vögeln heraus, und wenn das deine Kinder sind, so tut es mir leid, daß dein Geschmack nicht mein Geschmack ist.« Und damit ging er nach Hause. Die Vögel aber, die toten, behielt die Eule bei sich, weil es wirklich ihre Jungen waren.


  • Literatur: B. Ilg, Maltesische Märchen u. Schwanke 1, 219.

Blicken wir von hier aus noch einmal auf unseren Ausgangspunkt, auf die Fabel von Zeus und dem Affen, zurück, so liegt die erstaunliche Wandelbarkeit dieses Gegenstandes deutlich vor Augen. Hätten wir nicht die vermittelnden Glieder, man könnte zweifeln, ob die maltesische Sage wirklich äsopischer Herkunft sei. Aber bei aller Sagenforschung muß man[244] an dem Grundsatz festhalten, daß Verwandtschaft, sei sie auch noch so fern, immer dann bestehen kann (nicht muß), wenn der Grundgedanke oder das Hauptmotiv gemeinsam ist.

Wie frei aber mit diesem Hauptmotiv, der Affenliebe, verfahren wurde, erhellt auch aus einer zweiten Sagenform, die in ihrem Kern ebenfalls zu Zeus und dem Affen gehört, die aber in selbständiger Weiterentwicklung eine neue Sagenkette hervorgebracht hat. Es ist eine Form, die weit mehr als die vorige den Einflüssen der Naturdeutung ausgesetzt war und darum als Typus solcher Wandlungen gelten darf.

Bei Odo von Sherrington heißt es:


Als die Tiere einmal eine Versammlung hatten, schickte die Kröte ihren Sohn hin, doch vergaß er seine neuen Schuhe. Da berief sie den Hasen, weil er so gut laufen kann, zu sich und trug ihm für guten Lohn auf, ihrem Sohne die Schuhe zu bringen. Der Hase fragte: Wie kann ich ihn in solcher Versammlung herausfinden? Die Kröte erwiderte: Der, der am schönsten ist unter allen Tieren, ist mein Sohn. – Etwa die Taube oder der Pfau? sprach der Hase. – Kei neswegs, war die Antwort, da ja die Taube einen schwarzen Leib und der Pfau häßliche Füße hat. – Wie sieht also dein Sohn aus? – Die Kröte sagte: Wer einen solchen Kopf hat, wie ich, solchen Bauch, solche Beine, solche Füße, das ist der schönste: mein Sohn. Und dem übergib die Schuhe! – Der Hase kommt mit den Schuhen hin und erzählt dem Löwen und den anderen Tieren, wie die Kröte ihren Sohn allen übrigen vorziehe. Der Löwe sagt: Ky crapaud ayme, la lune ly semble. Si quis amat ranam, ranam putat esse Dianam.


  • Literatur: Ernst Voigt, Kleinere lat. Denkmäler der Tiersage 1879 S. 114; auch Hervieux 2, 604 = Wright, Latin stories app. 53, doch enthalten beide die Szene vor dem Löwen nicht, die durch die obenerwähnte Sagenform (Affe vor dem Löwen) bestätigt wird.

Es ist klar, daß der Kerninhalt noch immer der gleiche ist wie in der ersten Sagenreihe, die mit der Fabel vom Affen beginnt. Mit der durch Abstemius überlieferten Fassung stimmen sogar Einzelheiten überein. Man vergleiche


bei Abstemius:

Qua forma, inquit aquila, sunt filii tui?

Qua ego sum, bubo respondit.


bei Odo:

Dixit lepus: qualis igitur est filius tuus?

Dixit bufo: qui tale caput habet, quale est meum, talem ventrem usw.


Das ist im großen und ganzen dasselbe. Ein Unterschied liegt eigentlich nur – in einem einzigen Buchstaben. Wir haben jetzt bufo, die Kröte, statt bubo, der Eule. Ist das ein neckischer Zufall, oder darf man nicht vielmehr annehmen, daß hier eine Verwechslung stattgefunden habe? In diesem Falle wäre also eine von beiden, die Kröte oder die Eule, bloß durch einen Fehler zur Sagenfigur geworden. Indessen muß man einräumen, daß auch das so Läufig bemerkbare Streben nach Abwechslung den Personentausch herbeigeführt haben kann. Wenn nun des weiteren nicht die Kröte selbst, sondern nur die Erzählung ihrer Einfalt belacht wird, so schwächt das zwar die Wirkung ab, andererseits gibt die Einführung[245] einer neuen Person, des Hasen, der Handlung mehr Leben und Fülle.

Diese Rolle des Überbringers hat in der Volksüberlieferung die törichte Mutter selbst, so daß sie auch selbst (also wie in der ersten Sagenreihe) verlacht wird.

In einer kleinasiatischen Variante fehlt freilich dieser letzte Zug, aber sie muß hier erwähnt werden, da sie ein wichtiges Glied in der Entwicklungskette bildet. Sie erzählt:


Die Vögel und andere Tiere schickten ihre Kleinen zur Schule, und die Mütter brachten ihnen mittags zu essen. Einmal hatte das Rebhuhn keine Zeit hinzugehen, und da sie gerade ihre Nachbarin, die Schildkröte, bemerkte, bat sie diese, an ihrer statt das Frühstück mitzunehmen. Sehr gern, sagte die Schildkröte, aber leider kenne ich ja deine Kleinen nicht. – Sieh dir alle genau an, erwiderte das Rebhuhn; die schönsten, das sind die meinigen. Die Schildkröte nahm also das Frühstück des Rebhuhns und ging zur Schule. Dort sah sie sich rechts und links um, – keins der Kinder war schöner als ihre; und sie gab ihnen nicht nur ihr eigenes Frühstück, sondern auch noch das des Rebhuhns. Die Rebhuhnkinder mußten für diesmal hungern.


  • Literatur: Georgeakis et Pineau, Le folklore de Lesbos 1894 p. 98.

Sehen wir von dem modernen Aufputz dieser niedlichen Geschichte ab und vergleichen wir sie mit der Fabel bei Odo, so ergibt sich die Übereinstimmung, daß eine vergessene Sache dem Kinde nachgebracht wird. Dabei kommt die Lächerlichkeit der Affenliebe zutage. Wenn das Verlachen der Mutter hier nicht mit erwähnt ist, so findet es sich wiederum in einer nahe verwandten Sage der Aromunen, die aber andererseits eine neue und nicht unerhebliche Verschiedenheit aufweist: sie läßt die Jungfrau Maria auftreten und fügt die naturgeschichtliche Pointe hinzu.


B. Fabeln in Verbindung mit Mariensagen.

1. Aromunische Sage.


Die Mutter Maria saß neben dem Ausgang der Schule, um ihrem Sohne einen Kuchen zu bringen. Sie forderte die Schildkröte auf, ihn dem schönsten Kinde der Schule zu geben. Jene sah sie allesamt an und gab ihn ihrem eigenen Sohne. Da mußte Maria lachen und sagte: »Jede Mutter hält doch ihr Kind für das schönste. Weil du aber trotz meines Unglücks mich zum Lachen gebracht hast, sollst du in Zukunft im schönsten Grase leben, und deine Gebeine sollen nicht verwesen


  • Literatur: Papahagi, Din liter. poporana a Aromînilor 1900 S. 769.

2. Variante aus Malta.


Eines Tages arbeitete der kleine Jesus mit seinem Vater beim Bau eines Hauses. Seine Mutter aber hatte vergessen, ihm sein Vesperbrot mitzugeben, und da sie viel zu besorgen hatte, beauftragte sie die Eidechse, ihrem Sohne das Stück Brot zu überbringen. Aber diese stellte sich dumm und fragte: »Wie schaut er denn aus?« worauf die Mutter Gottes versetzte: »Gib dem schönsten Sohne das Brot,[246] und du kannst nicht fehlgehen!« So machte sich die Eidechse davon und suchte, suchte, konnte aber den schönsten Sohn nicht finden. Da kam der Mauersalamander1 herbei und sagte: »Gib mir das Brot, ich kenne den schönsten Sohn!« Die Eidechse freute sich da über diese Worte und gab das Brot her. Der Mauersalamander aber fütterte damit seinen Sohn. Die Mutter Gottes hatte jedoch alles gesehen und betrübte sich sehr. Dann aber sprach sie: »Wer euch beide tötet, eure Schwänze aber nicht außerdem ›umbringt‹, so werden diese, solange sie sich krümmen (und in die Höhe schnellen), dessen Vater und Mutter fluchen!« Darum schlägt man die Schwänze dieser Tiere noch besonders tot, will man nicht, daß den eigenen Eltern geflucht werde.


3. Nahe verwandt ist ferner eine mazedonische Sage, die die Entstehung der Seidenraupe erklärt:


Die Mutter Maria traf auf dem Wege zur Schule, wo sie das Brot zum Abendmahl austeilen wollte, die Schildkröte. Sie beauftragte das Tier, für sie zur Schule zu gehen und den Kindern dort das Brot zu spenden. Die Schildkröte tat es, hob aber das schönste Stück Brot bis zuletzt auf und reichte es ihrem Sohne. Verwundert fragte Maria, warum sie so gehandelt habe. Die Schildkröte antwortete: »Das schönste Stück habe ich für den schönsten Sohn bestimmt, und dieser hier ist der schönste.« Da mußte Maria lachen, aber sie bereute es bald, denn jede Mutter findet bekanntlich keinen Sohn schöner als den eigenen. Voll Abscheu gegen das Lachen spuckte sie aus, und ihr Speichel wurde zur Seidenraupe. Maria sagte zu ihr: »Laub sollst du essen und Seide hervorbringen. Man darf dieses Tier nicht schimpfen, noch anrühren, noch darf man reden, wenn es Seide fertigt, denn sonst stirbt es sofort.«


  • Literatur: Marianu, Insectele 1903 S. 280.

Diese beiden Sagen erkennt man leicht als ein Gemisch nicht zusammengehöriger Bestandteile. Und zwar sind dies:


1. Sagen von Maria und der Kröte, der sie wünscht, niemals zu verwesen, sondern zu verdorren.


a) Aus

Ungarn.


Bitterlich weinend zog die Jungfrau Maria in ihrem großen Schmerze des Wegs. Sie trauert, trauert, weint, härmt sich. Da begegnet sie einer Kröte. Fragt die Kröte: »Wohin gehst du, wohin gehst du, schöne Jungfrau Maria? Was trauerst du, was härmst du dich?« Die Jungfrau Maria antwortet: »Wie sollte ich nicht weinen, arme Kröte? Einen Sohn hatte ich, den haben sie getötet.« Darauf versetzt die Kröte: »Weine nicht, weine nicht, schöne Jungfrau Maria! Ich hatte zwölf, und in einer Radspur hat ein Rad sie alle zermalmt; dennoch weine ich nicht.« Da erwiderte die Jungfrau Maria: »Wenn du deine Söhne nicht beweinst, so sollst du auch nimmer verwesen.«

Darum verwest die Kröte nicht, auch wenn sie stirbt, sie vertrocknet nur. Wer's nicht glaubt, suche eine verendete Kröte. Gedenket der Jungfrau Maria!


  • Literatur: Magyar Nyelvör 5, 570. (Deutsch: Zeitschr. d. Ver. f. Volksk. 13, 74.)

b) Aus Polen.


Als der Herr Jesus gekreuzigt war, ging ein Bauer auf die Wiese, um zu mähen, und aus Mutwillen mähte er vier kleinen Fröschlein die Köpfe ab. Da[247] geschah's, daß die hl. Jungfrau in großer Betrübnis über den Tod ihres Sohnes durch die Wiese schritt, und als die Mutter der Frösche sie erblickte, sprach sie zu ihr: »O Frau, bekümmere dich nicht; sieh mich an! Ich hatte vier Kinder, und der Bauer hat sie mir weggemäht.« Die Mutter Gottes war dem Frosch für diesen Trost dankbar und sprach zu ihm: »Weil du so gut warst und mich in meinem Kummer tröstetest, wird deine Nachkommenschaft niemals verwesen.« (Hier ist also, wie in der Legende der Aromunen, Marias Wunsch nicht als Fluch aufgefaßt.)


  • Literatur: Zbiór wiad. d. anthrop. kraj. 7, 116 Nr. 33.

c) Rumänische Variante aus der Bukowina.


Einst soll die Mutter Gottes das Kindlein Christus gesucht haben, welches seit einigen Tagen fehlte. Während dieselbe ihren Sohn suchte, erblickte sie in einem Straßengraben eine Kröte, die dort wehklagte. Von der Mutter Gottes um die Ursache ihres Weinens befragt, gab sie zur Antwort, daß ein rollendes Rad ihre neun Kinder zertreten hätte, die sie jetzt beweine. Die Mutter Gottes wollte die Kinder der Kröte sehen und sagte, sie möge ihr dieselben zeigen. Die Kröte erfüllte diesen Wunsch und zeigte ihre Kinder. Der Anblick derselben aber soll die Mutter Gottes so angeekelt haben, daß sie die Kröte anspuckte mit den Worten: »Nie mögest du verwesen!« Und der Fluch der Mutter Gottes blieb an der Kröte haften, denn die Kröte, von der Sense verwundet oder vor Altersschwäche zugrunde gehend, geht gar nicht in Verwesung oder Fäulnis über, sondern ihr Fleisch und ihre Haut trocknen ein, und erst dann werden sie zu Erde.


  • Literatur: Zeitschr. f. österr. Volkskunde 9, 172. Vgl. Şezătoarea 5, 36.

d) Aus Bessarabien.


Die Mutter Gottes geht ihren Sohn suchen, begegnet einem Frosch und erzählt ihm auf seine Frage, welches Leid sie zu tragen habe. Da tröstet sie der Frosch: »Einen Sohn hast du verloren, heilige Mutter, ich aber hatte ihrer zwölf, und wie grün und glotzäugig waren sie alle; und da fuhr ein Bauer mit seinem Wagen durch die Furt und zerdrückte mit einem Rad alle zwölf; nicht einer ist mir geblieben! Und doch habe ich mich getröstet: alles geschieht nach dem Willen Gottes.« Der Mutter Gottes wurde leichter nach diesen Worten, und sie segnete den Frosch für immer: »Du mögest stets in Ehren gehalten werden bei den Menschen. Sie werden das Wasser trinken, in dem du dich badest, und werden sich davor nicht ekeln. Dich töten ist große Sünde, dieweil du in ihrem Kummer die Mutter unseres Herrn Jesu Christi getröstet hast!« Und seit der Zeit trinken die Menschen das Wasser, in dem der Frosch sich badet, und haben keinen Abscheu davor, und den Frosch töten – ist große Sünde.


  • Literatur: Jubilejnyj Sbornik v čest' Millera S. 95.

2. Die Sage von der Schildkröte und der Entstehung der Seidenwürmer.

a) Balkansage.


Als man Christus zum Kalvarienberg führte, folgte ihm seine Mutter Maria klagend und weinend. Auf dem Wege sah sie eine Schildkröte, und da lächelte sie. Aber bald bereute sie das Lächeln, und sie verwünschte sich selbst und sagte: »Möge doch mein Mund Würmer bekommen!« Kurz danach spuckte Maria aus, und was erblickte man? Aus ihrem Munde kamen Würmer, das[248] waren die Seidenwürmer, die bis heute existieren. (Hier findet sich also das Motiv des Bereuens und Ausspeiens wieder, das schon oben begegnete.)


  • Literatur: Revue des trad. pop. 8, 284 = Marianu, Insectele S. 280, Variante = Politis, Μελέται Nr. 330. Fast wörtlich gleich Strausz, Die Bulgaren S. 85 (nach Šapkarev, Narodni starini 3).

b) Aus Bulgarien (Erweiterung).


Als Christus gestorben war, stellte sich die heilige Jungfrau ihm zu Häupten und fing an zu weinen. Alle Frauen der Stadt, wo sie sich auch befanden, kamen herbei mit einer Kerze und einem Blumenstrauß.

Der Frosch erfuhr auch, daß der Sohn der Jungfrau tot war. Da pflückte er auch einen Strauß, machte sich eine Kerze und ging zur hl. Jungfrau auf den Hügel. Er trat in das Zimmer, machte das Kreuzzeichen, zündete seine Kerze an, stellte sie an das Haupt Christi und legte den Strauß an seine rechte Schulter. Dann beugte er das linke Knie, drückte mit seinen beiden Pfoten das rechte Knie und erhob die Augen, um zu weinen. Alle Frauen beweinten Christus der Reihe nach, und alle, welche einen Toten in ihrer Familie hatten, baten Christus, ihm in der anderen Welt ein glückliches Leben zu verleihen. Der Frosch weinte auch, und dabei sandte er seinem Männchen einen Gruß, welches er vor kurzem verloren hatte. Als die Frauen das sahen, bekamen sie Lust zu lachen, und obwohl sie sich beherrschten, bemerkte es die hl. Jungfrau doch. Als der Frosch sich erhoben hatte, um nach Hause zu gehen, ergriff er die hl. Jungfrau bei der Hand und sprach zu ihr: »Bleibe recht gesund, liebe Schwester, hl. Jungfrau, und Gott tröste dich! es ist nichts zu machen, wenn der verwünschte Tod kommt. Gestern verlor ich mein Männchen, und heute ist die Reihe an deinem Sohne. So ist diese verwünschte Welt, und man geht nicht lebend in die Erde, liebe Schwester, hl. Jungfrau!«

Alle Frauen lachten versteckt und hielten sich die rechte Hand vor den Mund, damit es die hl. Jungfrau nicht bemerke; aber trotz ihres Kummers mußte sie selbst über die Worte des Frosches lachen, empfand jedoch sogleich, daß sie eine Sünde begangen hatte: »O daß meine Lippen Würmer bekommen mögen, weil ich gelacht habe! was habe ich vor mir, daß ich lache? einen Sohn, der sich verheiraten könnte, tot vor mir ausgestreckt, die Nägel im Körper.«

Und durch ein großes Wunder wurden die Lippen der hl. Jungfrau sogleich mit Würmern bedeckt. Soviele Worte sie gesprochen hatte, so viel Würmer fielen ihr aus dem Munde. Gott segnete diese Würmer, und sie verwandelten sich in Seidenraupen und spannen sogleich ihre Puppen. Als das die Frauen sahen, bat jede um einige und züchtete sie. Und wenn die Seide teuer ist, so geschieht es darum, weil sie aus dem gesegneten Munde der hl. Jungfrau kommt.


  • Literatur: Schischmanoff Nr. 52.

c) Aus Sizilien (Variante ohne Entstehung der Seidenwürmer).


Maria war verzweifelt über den Tod Jesu, und es gab nichts, sie zu trösten. Die guten Nachbarinnen suchten sie so oder so zu zerstreuen; aber alles war vergebens. Da fiel eines Tages zufällig ihr Blick auf eine Schildkröte, und das genügte, Maria ein Lächeln abzugewinnen. Dies war das einzige Lebewesen, das die Madonna erheiterte, und darum wurde sie gesegnet.


  • Literatur: Pitrè, Usi e cost. Sic. 3, 348.

d) Aus dem Archipel.


Am Gründonnerstag essen die Christen in und um Konstantinopel Linsen. Folgendes ist der Grund davon:


[249] Am Gründonnerstag war die Jungfrau Maria sehr traurig, denn die Juden hatten ihr den Sohn genommen. Und niemand dachte an die Mutter Jesu. Nur eine Schildkröte dachte an sie und brachte ihr Linsen zur Mahlzeit. Trotz ihres Schmerzes mußte Maria lächeln über die Freundlichkeit der guten Schildkröte. Und seitdem wird Maria stets lächelnd dargestellt.


  • Literatur: La Tradition 10, 71.

e) Parallele Sage von der Eule aus Lesbos.


Wißt ihr, warum die Eule immer von kleinen Vögeln verfolgt wird? – weil, als man Christus kreuzigte, die Eule ihr Kleid aufhob und es über den Kopf zog und ging, um die Mutter Gottes zu trösten. Diese war darüber so befriedigt, daß sie ihr gelobte, ihr jeden Tag kleine Vögel zu schicken, damit sie zu essen hätte.


  • Literatur: Politis Nr. 366. Vgl. G. Georgeakis et L. Pineau, Folklore de Lesbos S. 337 f.

Ein Überblick über diese Mariensagen zeigt, daß sie in die Sage von der zur Schule wandernden Schildkröte eingedrungen sind. Hierher gehört übrigens noch eine polnische Sage, die mir sehr altertümlich klingt, und die zu der Vermutung Anlaß geben könnte, daß alle diese Mariensagen erst eine späte Verchristlichung älterer Traditionen seien. Sie lautet:


Sieben Jahre wehte der Wind nicht, als der Sohn ihm starb, so daß die ganze Welt mit Spinnweben überdeckt war und jede Kreatur Mühe hatte, zu atmen. Er war beständig voll Trauer, und niemand konnte ihn erheitern, bis endlich einmal ein Hahn zum Winde kam und ihm sagte, daß ihm alle Tage hundert Söhne stürben und er deshalb doch nicht bekümmert sei. Und er sprang auf den Zaun und krähte freudig Kikeriki, bis der Wind lächelte. Seitdem begann der Wind weiter zu wehen. (Die Auffassung, daß die Worte des Hahnes zum Troste, nicht zum Abscheu gereichen, war schon in der obigen polnischen Variante auffällig.)


  • Literatur: A. Pleszczyński, Bojarzy międzyrzeccy 153, Nr. 4 (Warschau 1893).

Fußnoten

1 »uizagh« gilt als Sinnbild der Häßlichkeit.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 250.
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