I. Das Reittier.

[23] In der Geburtsgeschichte hieß es, daß Ochs und Esel an der Krippe standen. Dieselben Tiere begleiten das Jesuskind nach Ägypten; auf dem Esel reiten Maria und das Kind.

Vgl. Protevangelium Jacobi cap. 17 (Hennecke, Neutestamentl. Apokr. S. 60), sowie Schade, narrationes cap. 22: Cum autem Joseph duceret matrem et puerum in Egyptum, dicit Josephus, quod puer unius anni fuit. Et habuit duos asinos: in uno sedebat rnater cum puero, in alio victualia necessaria vehebantur. Habuit etiam duos boves, unam ancillam et tres servos.

Vögtlin, Vita B.V. Mariae et Salvatoris rhythmica v. 2144 ff.


Hic non credat aliquis, quod ierint in via

Soli portantes puerum Joseph cum Maria,

Quia Joseph duos boves et totidem ducebat

Asinos; in uno mater cum puero sedebat,

Alter necessarios victus deportabat

Per desertum, in quo nemo tunc inhabitabat.


Bei Schade, liber infantiae Mariae S. 38 (vgl. Pseudo-Matth. cap. 19, bei Tischendorf, ev. apocr.2 S. 86) wird das Thema erweitert. Nachdem von[23] der Verehrung die Rede war, die dem Christuskinde von den Löwen und anderen Tieren1 in der Wüste erwiesen worden ist, heißt es weiter:

Ambulabant ergo simul leones et asini et boves et sagmarii, qui eis portabant necessaria et simul ubi mansio facta esset ad pabulum accedebant ... Erant enim duo boves in itinere eorum sagmarii, quos dirigebant leones per desertum in itinere domini nostri Jesu Christi, cuius necessaria portabant et obsequebantur.2

Die Volksüberlieferung, die an die Geschichte von der hl. Familie und den Tieren anknüpft, schmückt sie durch den Zusatz aus, daß der Esel, weil er die Flüchtigen nach Ägypten trug, ein Kreuz auf dem Rücken erhalten habe. Sébillot, Folklore de France 3, 73 (Aus Eure-et-Loir, ebd. S. 89: Der Blitz soll ihn seitdem nicht treffen können; ebenfalls aus Eure-et-Loir). Ons Volksleven 12, 99 (aus Knocke), Mont en Cock, Vlaamsche Vertelsels S. 57 (aus Denderleeuw). Doch sucht sie auch neue Eindrücke zu schaffen und erfindet eine besondere Geschichte, in der sie zur Abwechslung das Maultier oder das Pferd einsetzt.


Joseph hatte das Maultier gewählt, um die hl. Familie nach Ägypten zu bringen, aber als er es satteln wollte, ließ es seine Ungezogenheiten an ihm aus und verletzte ihn. Da verwünschte er das Maultier. Seitdem ist es zur Fortpflanzung untüchtig und darf weder Ahnen noch Sprößlinge haben und ist nun ganz ohne Familie. Darum ist es immer so voll Zorn gegen alle Welt; von jedem ausgestoßen, liebt es auch niemanden.


  • Literatur: Rolland, Faune populaire 4, 273. Vgl. oben S. 9: Übertragung auf die Reise nach Bethlehem.

Aus Lüttich (Wallonisch).


Als die Jungfrau Maria und der hl. Joseph das Pferd gebeten hatten, sie auf seinem Rücken zu tragen, indem sie sagten, daß sie dann vor den Mördern des Herodes sogleich geschützt sein würden, drehte das Pferd, das gerade seinen Hafer aß, mürrisch den Kopf um, ohne zu antworten, und wandte sich wieder zur Krippe. Das Kind ließ eine Klage hören, und sogleich wurde das Pferd von einem solchen Heißhunger ergriffen, daß es sich seitdem niemals gesättigt hat; wenn es mit Hafer und Heu vollgestopft ist, sieht man es noch gierig die Blätter des Baumes rupfen und das Gras, das zwischen dem Pflaster wächst.

Maria und Josef gingen darauf zum Esel, der sofort mit Freuden ihre Bitte erfüllte. Er ließ gleich seine schmale Kost im Stich, deren er doch sehr bedurfte.

Und der Esel ist fortan mäßig geblieben, eine Distel behagt ihm ebensosehr wie reiner Hafer, die verachteten Gräser haben großen Wohlgeschmack für ihn.

Weil aber dies bescheidene Tier das Christuskind getragen hat, trägt es allen sichtbar zur Erinnerung das Kreuzeszeichen auf dem Rücken.


  • Literatur: Wallonia 1, 53. Vgl. Sébillot, Folklore de France 3, 74.

[24] Aus Malta.


a) Als die hl. Familie flüchten mußte, geschah es, daß sich in der Wüste nichts fand, was dem Esel zur Nahrung hätte dienen können. Und das arme Tier war schier am Verhungern. Da kam von ungefähr ein Maultier daher, welches wohlgenährt und noch dazu mit Futter reichlich beladen war. Da bat die Mutter Gottes das Tier um etwas Futter für den armen Esel; aber es antwortete: »Wenn der Esel mit wenigem zufrieden wäre, so litte er jetzt keinen Mangel; für mich aber habe ich selber nicht viel mitgebracht!« Und dabei ging das Tier seiner Wege. Da rief die Mutter Gottes: »Von nun an sollst du nie satt werden und stets nach Futter Verlangen tragen. Der Esel aber soll satt werden mit wenigen mageren Bissen.«

b) Als die Mutter Gottes auf der Flucht war, fürchtete sie, daß die Eselin – ein reines, unberührtes Tier – der allzu großen Last am Ende nicht gewachsen sein und vorzeitig ermüden könnte. Also saß sie ab und ging eine Strecke zu Fuß. Aber bald konnte sie nicht mehr weiter, und da sie sich vor den Verfolgern fürchtete, bekümmerte sie sich sehr. Dann aber hatte sie einen guten Einfall: sie drückte die Milch ihrer Brust in Kreuzesform auf den Rücken der Eselin und rieb sie gut ein. Dadurch wurde die Eselin so gestärkt, daß sie die Mutter Gottes ohne Beschwerden weiter tragen konnte. Noch heute tragen die Eselinnen das helle Kreuz.


  • Literatur: Bisher ungedruckt. Frdl. Mitt. von Frl. B. Ilg in Valletta.

Fußnoten

1 Vgl. Vögtlin, v. 2222 ff.


Concurrerunt bubalae cervaeque praebentes

Ad mulgendum ubera, lac suum offerentes,

Ut ex illo sanctus ille conventus nutriretur

Lacte puer etiam Jesus foveretur.


2 Schade vergleicht hierzu: Hrotsvit fol. e 3r; Cuonrad 83, 29–66; Passionale 29, 20–71; Philipp 2908–2929; Walther 72, 47–73, 26.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 25.
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