X. Einzelnes.

A. Der Schiffbruch.

[68] Aus der Bretagne.


Als das Schiff, das die hl. Familie nach Ägypten trug, den Hafen verlassen hatte, flatterten ringsum Tausende von Vögeln; einige kamen sogar in die Kabine, wo sich die hl. Reisenden befanden, und warnten sie, daß ein Sturm losbrechen würde. Der hl. Joseph verstand sie und verlangte ein Fahrzeug, ihn an Land zu bringen. Während der Überfahrt sangen sie um ihn herum. Sie hatten die hl. Familie gerettet, denn fast sofort erhob sich ein Sturm, und das Schiff ging unter. Diese Vögel waren kleine Ibisse, und um sie zu belohnen, hat ihnen Jesus gewährt, daß ihre Nester niemals in die grausamen Hände der Kinder fallen.


  • Literatur: Sébillot, Folklore de France 3, 170 f. = Revue des trad. pop. 14, 697 Nr. 24. – Vgl. das Verschen aus der Bucht der Somme:

Corlu [= courli], corlu va où tu voudras,

Jamais ton nid on ne trouvera.

(Sébillot, ebenda.)


B. Die warmen Quellen.

1. Aus Palästina.


Bei dem sogen. Turm der vierzig Märtyrer zu Ramla in der Nähe der Stadt Emmaus gibt es heiße Quellen. Der Volksglaube legte diesen wunderbare Heilkraft bei und schrieb dies der Ursache zu, weil der Knabe Jesus in seiner Jugend hier seine Füße gebadet – Grund genug, daß Kaiser Julian sie später mit Kot verstopfen ließ.


  • Literatur: Sepp, Symbolik 5, 21.

2. Parallele aus Bulgarien.


Als die Mutter Gottes vor den Juden fliehen mußte, hatte sie nichts, um das Wasser zu wärmen, worin das Jesuskind gebadet werden sollte. Sie badete es daher überall, wo sie eine Quelle fand, und segnete an all diesen Stellen die Quelle, damit sie warm würde. Seitdem gibt es die warmen Quellen.


  • Literatur: Schischmanoff, Nr. 48.

3. Parallele aus einem altchinesischen Leben Buddhas.


Als Buddha geboren war, suchten die Umstehenden überall nach Wasser, eilig liefen sie nach jeder Richtung, aber sie fanden keins, als siehe da! gerade vor der Mutter auf einmal zwei schöne Wasserbecken erschienen, eins mit kaltem und eins mit heißem Wasser, das mischte sie, wie es ihr am angenehmsten war, und verwendete es. Und wieder erschienen mitten aus dem Raum zwei Wasserbäche, kalt und heiß, damit wurde Buddhas Körper gewaschen.


  • Literatur: Beal, Sâkya Buddha S. 45. Weitere Belege bei Windisch, Buddhas Geburt S. 129.

C. Die Milch der Mutter Gottes.

1. Aus Palästina.


Als Joseph mit der hl. Familie auf göttliches Geheiß nach Ägypten fliehen mußte, rettete er Maria und das Jesuskind zunächst in die Milchgrotte (eine Kreidesteinhöhle)[68] bei Bethlehem, um selbst die nötigen Vorbereitungen zur Reise treffen zu können. In dieser Grotte stillte Maria das himmlische Kind. Da fiel ein Tropfen Milch auf die Erde, und seit jener Zeit ist dort eine milchartig erscheinende (mergelartige) Stelle.


  • Literatur: O. Schell, Am Urquell 6, 68. Vgl. Sepp, Symbolik 5, 19.

2. Aus Malta.


Als die hl. Familie auf der Flucht war, mußte sie eines Tages in der Wüste übernachten. Es war schon fast dunkel, und das Kindchen weinte vor Hunger, weil die Mut ter es nicht stillen konnte, da die Brust keine Milch mehr hergeben wollte. Und sie wußte sich nicht zu helfen. Plötzlich gewahrte sie in der nächsten Nähe ein buschiges Kraut, welches sehr frisch und einladend aussah. Sogleich pflückte sie ein Büschel davon und aß es auf. Während dem Essen aber fühlte sie, wie die Milch der Brust zulief, und zwar in solcher Menge, daß diese zu bersten schien. Eilig legte sie das Kindchen an, das sich nun satt trinken konnte. Dann drückte sie aus Dankbarkeit etliche Tropfen Milch auf die Staude und sagte: »Zur Erinnerung!« Im selben Augenblick bildete die Staude Knollen, die der Mutterbrust ähnelten, und kaum hatte der kleine Jesus sie erblickt, als er ausrief: »Mammazeiza!« (Mutterbrust – so in kindlicher Sprechweise statt iz-zeiza tal mamma). Seit der Zeit heißt die Pflanze Mammazeiza (Bilsenkraut), und ihre Stengel enthalten noch heute Milch von der Mutter Maria.


  • Literatur: Bisher ungedruckt. Frdl. Mitt. von Frl. B. Ilg.

D. Der Liebfrauenschuh.

Aus Malta.


Auf der Flucht geschah es, daß die Mutter Gottes keinen Zucker für ihr Kind hatte. Traurig wanderte sie weiter, und zuletzt sah sie einen verendeten Löwen liegen, in dessen Rachen ein Bienenschwarm hauste. Die Bienen kamen eilfertig herangeflogen und boten ihren Honig an; so konnte die Mutter Gottes dem Kinde geben. Aus Dankbarkeit sprach sie zu den mitleidigen Tieren: »Ich will euch eine Blume schaffen, die dem Maule des Löwen gleicht, und darin sollt ihr stets reichlich Honig finden.« So tat sie. Da sie aber mit ihrem Pantoffel das Erdreich formte, so wurde aus der Blume ein kleiner Pantoffel, der Liebfrauenschuh heißt (papocci tal Madonna).


  • Literatur: Frdl. Mitt. von Frl. B. Ilg. Der Name Liebfrauenschuh ist wie in Malta so auch in Deutschland an die Stelle eines heidnischen Namens getreten. Vgl. Grimm, Myth.4 1, 180 [199]: Niarđr vöttr = Niörđs Handschuh, später Marienhand u. dgl. Andere Übertragungen ebenda 251, 545, 999 (»Frauenschühli«); Söhns, Unsere Pflanzen 438.

E. Das Farnkraut.

Aus Polen.


Als die allerheiligste Mutter Gottes mit dem hl. Joseph und dem Jesuskind vor dem König Herodes floh, rissen sie, weil sie dem hungrigen Gotteskind nichts zu geben hatten, im Wald einen Farn mit der Wurzel heraus und nährten den Gottessohn damit. Daher hat Herr Jesus zum Andenken daran bestimmt, daß von jener Zeit an die Wurzeln des Farnkrauts die ursprüngliche Bitterkeit verlieren sollen, und so können sie seit jener Zeit hungrigen Menschen zur Nahrung dienen.


  • Literatur: Zbiór 7, S. 118, Nr. 42.

[69] Vgl. dazu außer Grimms Mythologie4 1012 folgenden polnischen Aberglauben:


»Die mysteriöse Blume des Farn, die um Mitternacht des St. Johannestages erblüht, gestattet ihrem Besitzer, in einem magnetischen Schlafe alle verborgenen Schätze unter der Erde zu sehen und die Geheimnisse der Zukunft zu entdecken.«


  • Literatur: Globus 35, S. 270 aus Kopernicki, desidées médicales des conceptions naturelles et des croyances populaires en Pologne concernent les animaux et les plantes.

F. Verletzung des Jesuskindes.

1. Aus der Gegend von Brüssel.


Als die hl. Familie auf der Flucht nach Ägypten in einem Graben rastete, ritzte die scharfe Spitze einer Binse das Auge des kleinen Jesus, welcher schlief; er erwachte und fing an zu weinen. Die Jungfrau verfluchte die unheilvolle Pflanze, und seitdem ist die Spitze ihrer Ähre geschwärzt und verbrannt.


  • Literatur: Sébillot, Folklore de France 3, 450 = Petit Bleu de Bruxelles 9. Mai 1903; Mont en Cock, Vlaamsche Vertelsels S. 123.

2. Aus Sizilien.


Man nennt die Schwalbe den Vogel der Madonna. Sie sind gesegnete Tiere, die man ehrt, und man wünscht, daß sie ihr Nest an das väterliche Haus bauen.

Tötet man eine Schwalbe, so begeht man eine Sünde, weil die Schwalbe in ihrem Blute einen Tropfen vom Blute des Herrn hat, noch seit der Zeit der Flucht nach Ägypten, als ein Dorn das Jesusknäblein in den Finger stach und sie den Blutstropfen, der davon ausging, aufnahm.


  • Literatur: Pitrè, Usi e costumi 3, 158 f.

G. Huhn und Schwein.

Aus Italien:


Es heißt, als Maria auf der Flucht war, suchte sie ein Versteck, um ihr Kind vor der Verfolgung zu schützen. Sie sah einen Haufen Stroh und verbarg das Jesuskind darunter. Aber gleich darauf kam ein Huhn und begann mit den Füßen im Stroh herumzuscharren, so daß man das Kind sehen konnte. Da nahm Maria ihr Kind und verbarg es in einem Düngerhaufen. Eine Sau war in der Nähe und half mit ihrem Rüssel dabei. Da sagte Maria: »Möge das Huhn mehr Zeit brauchen, ein Ei zu legen, als die Sau, um sieben Schweine zu werfen.« »Und seitdem,« sagen unsere Bauern, »haben die Hennen soviel Not, ein Ei zu legen, während die Säue in kurzer Zeit und mühelos viel Ferkel werfen.«


  • Literatur: Rivista delle trad. pop. 2, 42. Offenbar Nachbildung nach den Sagen oben S. 58 und 13 ff.

H. Entstehung der Affen.

Südslavisch.


Als der schreckliche Herodes alle Knäblein unter zwei Jahren in Bethlehem und in der Umgegend zu töten befahl, weil er hoffte, daß dabei auch das Jesuskind umkommen werde, wurden Joseph und Maria flüchtig und zogen mit dem Kind nach Ägypten. Von den andern jüdischen Müttern aber versteckten einige in ihrer Angst ihre Kinder unter Mulden. Als die Henkersknechte abgezogen waren, hoben die Mütter die Mulden auf. Da lagen lauter junge Affen drin.

So ist das Affengesehlecht aus dem Menschengeschlecht entstanden.


  • Literatur: Krauß, Sagen und Märchen der Südslaven 2, 65, verkürzt.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 68-70.
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