IX. Das Spinngewebe vor der Höhle.

[66] Tabarî I, 9. Das Spinngewebe vor der Höhle erzählt:


Als David auf der Flucht vor Saul sich in einer Höhle verborgen hatte, wob die Spinne auf Gottes Geheiß ihr Gespinst am Eingang derselben. Als nun Saul an die Höhle kam und das Gespinst sah, sagte er: »Wenn er da hineingegangen wäre, so hätte er das Spinnengewebe zerrissen.« Und so ging er weiter.


Diese Sage ist nach Grünbaum, Neue Beiträge, S. 195, jüdischen Ursprungs, wenigstens stehe sie, wie aus Levys chald. WB I, 48 zu ersehen sei, in der Paraphrase des Targum zu Ps. 57, 3.

Die bekannte Übertragung auf Mohammed findet sich nach Levy und Grünbaum bei Zamaḫśarî I, 9. Das Spinngewebe vor der Höhle und Baiḍâwî I, 9. Das Spinngewebe vor der Höhle zu Sur. 9, 40, auch im Eingange zu Ferîd ed-Dîn's Manṭiḳ Uṭ-Ṭair ed. Garcin de Tassy.

Ob es literarische Überlieferungen gibt, in denen dieselbe Geschichte auch in das Leben Jesu versetzt wird, habe ich nicht feststellen können. Im Volksmunde gibt es folgende Geschichten:


1. Aus Malta (arabische Überlieferung).


a) Auf der Flucht nach Ägypten geschah es, daß das Christkind um ein Haar in die Hände der Verfolger geraten wäre. Aber eiligst machte sich der heilige Joseph ans Werk, eine Grotte, die vor langer Zeit eingestürzt war, vom Erdreich zu befreien, und verbarg die Mutter mit dem Kinde. Unterdes löste er einen riesigen Felsblock und befestigte ihn so, daß er anscheinend frei in der Luft hing und aussah, als müßte er jeden Augenblick niederfallen. Dann rief er eine Spinne, und diese begann, ein großes dickes Netz darum zu schlingen. Darauf streute der hl. Joseph Erdreich und zog sich in die Höhle zurück. Bald kamen die Verfolger und beratschlagten, ob die Flüchtlinge sieh wohl darin verborgen hätten. Aber zuletzt überzeugte sie der gefährlich schwebende Felsblock, mehr noch die schmutzigen, altersgrauen Spinnweben, daß niemand die Grotte betreten habe. So zogen sie ab, und die hl. Familie war gerettet. Seit der Zeit hängt der Block noch immer frei vor der gesegneten Grotte, die Spinne aber trägt ein Kreuz auf dem Rücken, da Gott sie mit seiner Gnade bedachte.

b) Als der kleine Jesus noch ein Kind war, befand er sich einst auf freiem Felde, wo er für sich allein spielte. Plötzlich hörte er, wie eine Menge frecher Judenbuben daherkam, um ihn zu plagen. Eilig begab er sich in eine nahe Grotte, formte eine große Spinne aus Lehm, hauchte sie an und befahl ihr, während seine Fingerchen mit Speichel ein Kreuz auf ihrem Rücken zeichneten, sie solle ein Gitter weben, um ihn zu verbergen. Die Spinne machte sich rasch an die Arbeit und schlug die Fäden stets über Kreuz, so daß das Gitter undurchsichtig wurde und die bösen Judenbuben den kleinen Jesus nicht fanden. Seither trägt diese Spinne ein Kreuz auf dem Rücken, welches sie in ihren Arbeiten nachzumachen be strebt ist.


  • Literatur: Mitteilung von Frl. B. Ilg.

[66] 2. Aus Bulgarien.


Als die hl. Jungfrau mit dem kleinen Jesuskinde vor den Juden floh, verbarg sie sich in einer Höhle. Da kam eine Spinne, spann ihr Netz vor deren Eingang und bedeckte ihn wie mit einem Vorhang. Kurz darauf kam eine Taube und legte in dem Spinnennetz ein Ei. Als die Juden an den Eingang der Höhle kamen, wollten sie zuerst eindringen, um sie auch zu durchsuchen; als sie aber das Spinngewebe und das Ei darin sahen, sprachen sie: »Hier ist niemand hineingegangen; da ist ja ein Spinnennetz und ein Taubenei darauf: Gott weiß, wie lange schon dieses Gewebe da ist!« Und sie gingen vorüber.

Da segnete die Mutter Gottes die Spinne und erlaubte ihr, ihr Netz an einem Tage zu spinnen und in den menschlichen Wohnungen zu hausen; dann segnete sie die Taube und gab ihr die Fähigkeit, alle Monate Eier zu legen und zu brüten.


  • Literatur: Schischmanoff Nr. 49.

3. Eine neue Wendung hat diese Sage in Cornwall erhalten, wo es heißt, eine Spinne habe ihren Schleier über das Christuskind gesponnen, als es noch in der Krippe lag. Siehe oben S. 17.


Zu der Haupthandlung, daß die hl. Familie in einer Höhle Schutz vor Herodes findet, vgl. eine ähnliche, nur noch wunderbarere Geschichte im Protev. Jacobi cap. 22–24 und Hist. de nat. Mar. cap. 17:


[Als der bethlehemische Kindermord begann,] da nahm Elisabeth den Johannes und ging hinauf in das Gebirge und sah sich um, wo sie ihn verbergen könne; aber es war kein Ort zum Versteck da. Da seufzte sie und sprach: »Berg, o Berg, nimm eine Mutter auf mit ihrem Kinde«; denn sie konnte nicht weiter gehen. Und alsobald spaltete sich der Berg und nahm sie auf. Und es erschien ihnen ein Licht im Gebirge, nämlich ein Engel des Herrn geleitete sie.


  • Literatur: Rud. Hofmann, Leben Jesu, S. 134.

Vgl. ferner die Sagen oben S. 50.


Parallelen.

In der Nähe von Vöslau ist eine große, in die Tiefe reichende Erdhöhle. Dort suchten im Jahre der großen Türkennot 1683 Flüchtlinge Schutz und wurden nicht entdeckt, weil eine Kreuzspinne den Eingang mit einem dichten Gespinst bedeckt hatte. In Österreich gilt der Glaube: Katzen und Kreuzspinnen soll man nicht töten, denn sie bedeuten Glück.


  • Literatur: Zschr. f. Volksk. 3, 102.

Die Kreuzspinne heißt in Tirol Muttergottestierlein; sie bringt Glück.

J.v. Zingerle, Sitten, Gebräuche u. Meinungen des Tiroler Volkes, S. 89.


Im Altenburgischen wird die Kreuzspinne als glückbringendes Tier betrachtet.

Zschr. f. Volksk. 2, 358.


Die Spinne wird deshalb so geachtet, weil sie einem Menschen das Leben gerettet hat. Es war mal jemand, dem es so oder so recht schlecht ging, und nun traf es sich noch, daß er verraten werden sollte. In seiner Herzensangst kroch er in einen Ofen und blieb da versteckt. Und wie er so krumm lag und auf jedes Geräusch horchte, kam ein Spinnchen herbei und webte vor das Ofenloch ein langes Gewebe. Während der Zeit untersuchten die Verfolger jedes Winkelchen und durchstöberten auch das Zimmer. Zuletzt machte einer von ihnen die Ofentür[67] auf, um in den Ofen zu sehen, aber schlug die Tür gleich wieder zu und sagte: »Hier ist er gewiß nicht hineingekrochen, denn hier hängt alles voll Spinnweben, und die hätte er doch zerreißen müssen.« So wurde der Verfolgte gerettet, denn seine Feinde gingen nun einen andern Weg.


  • Literatur: Lemke, Volkstüml. in Ostpreuß. 2, 22, Nr. 41.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 66-68.
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