I. Pferd und Rind.

[88] 1. Weißrussisch.


Als die hl. Jungfrau auf Erden ging, mußte sie einmal ein Wasser überschreiten. Zuerst bat sie das Pferd: »Trag mich hinüber!« Das Pferd aber sagte: »Ich habe mich noch nicht satt gegessen.« Dann sprach sie zum Ochsen: »Öchslein, trag du mich über das Wasser!« Der Ochse sagte: »Ich trage dich sofort hinüber.« Sie setzte sich auf ihn, und er trug sie ans andere Ufer.

Zum Lohn dafür darf sich der Ochse nach Herzenslust satt essen und ausruhen; das Pferd dagegen frißt Tag und Nacht und kann sich nicht sättigen.


  • Literatur: Federowski, Lud białorusski 2, Nr. 332.

2. Rutenisch.


Als Christus auf Erden wandelte, kam er einmal an einen Fluß, dessen Wasser so hoch stand, daß er nicht hinüber konnte. Schon wollte er umkehren, da sah er, daß dort ein Pferd graste. »Trag mich auf die andere Seite,« sagte er zu ihm. »Ich bin noch nicht satt,« antwortete das Pferd. Der Herr erzürnte und verfluchte es: »Du sollst bis ans Ende der Welt fressen und niemals satt werden!« Daher frißt das Pferd jetzt immerfort und kann sich nie satt fressen.


  • Literatur: Zbirnyk 13, S. 75, Nr. 84.

3. Polnisch.


An einem breiten Bach weideten zur schwülen Mittagszeit das Pferd und der Ochse. Als Jesus über das Wasser setzen wollte, bat er das Pferd, ihn hinüberzutragen; denn es war kein Steg vorhanden. Aber das Pferd war unwillig, daß es im Fressen gestört wurde, und antwortete, daß es das nicht tun könne, weil es sich noch nicht satt gefressen habe. Da wandte sich Jesus mit seiner Bitte an den Ochsen, und dieser kniete vor ihm nieder, bot ihm seinen Rücken und trug ihn hinüber. Seit der Zeit, so bestimmte es Jesus, kann der Ochse Hunger und Durst aushalten, während das Pferd sich niemals satt fressen kann.


  • Literatur: Zbiór wiad 7, S. 108, Nr. 3. Vgl. ebenda 2, S. 38, Nr. 1 und 15, S. 269, Nr. 22: Das Pferd wird verflucht, daß es sein lebelang nicht ruhig weiden solle, da die Fliege es quälen werde; der Ochse dagegen soll sich ausruhen können.

4. Böhmisch.


Das Pferd ist unersättlich, weil es Josef mit Maria und dem Jesuskindlein nicht über das Wasser tragen wollte.


  • Literatur: Česky Líd 5, H. 1, S. 64.

[88] 5. Aus Oberschlesien.


Ein Pferd versagte dem Heiland den Dienst. Es sagte, es müsse sich zuerst satt fressen, worauf der Heiland geantwortet habe: »Du wirst dich nie satt fressen.«


  • Literatur: Nehring in den Mitt. des schles. Vereins f. Volksk. Heft 3, S. 8.

6. Aus Posen.


Einst weideten ein Pferd und eine Kuh am Ufer eines breiten Flusses im Grase. Da kam der Heiland des Weges und wollte über den Fluß. Er trat an das Pferd heran und bat dasselbe, ihn über das Wasser zu tragen. Das Pferd gab zur Antwort: »Ich kann nicht, da ich fressen muß.« Da ging Jesus zu der Kuh, und diese trug ihn über das Wasser. Dem Pferde aber rief Christus zu: »So friß denn immerzu!« Seit dieser Zeit wird das Pferd nie satt, wenn es auch noch so viel frißt. (Gegend von Koschmin.)


  • Literatur: O. Knoop, Volkstümliches aus der Tierwelt (1905), S. 37.

7. Aus Pommern.


a) Die Leute erzählen, jedes Pferd könne sich nur einmal im Jahre satt fressen, und zwar soll das folgende Bewandtnis haben:


Vor vielen Jahren weidete einst das Pferd an dem Ufer eines Flusses und stieg, als es sich satt gefressen, in den Strom hinein, um dort zu baden. Da kam der liebe Gott des Wegs daher und wollte über den Fluß gehen. Weil jedoch gerade hoher Wasserstand war und unserm Herrgott das Waten nicht anstand, so rief er dem Pferd zu, es möge zu ihm kommen und ihn hinübertragen. Mochte das pflichtvergessene Tier nun denken, sein Herr und Schöpfer könne auch ohne seine Beihilfe über das Wasser kommen, oder mochte es sonst etwas im Sinne haben, kurz, es tat, als habe es nichts gehört, schwamm auf die andere Seite des Flusses, stieg dort ans Land und ging dann unbekümmert seinen Weg weiter.

Da sprach der liebe Gott: »Du undankbares Tier! Weil du solches getan hast und mich nicht hast hinübertragen wollen, so sollst du von nun an zur Strafe nur einmal im Jahre dich satt essen können.« Und wie unser Herrgott gesprochen, so ist es auch geschehen. Das Pferd mag, wenn es Ruhe hat, fressen so viel wie es will, satt wird es niemals.


  • Literatur: U. Jahn, Volkssagen aus Pommern und Rügen, Nr. 571. Aus Reckow, Kr. Lauenburg.

b) Variante.


Anders erzählen die alten Leute im Kreise Randow. Darnach war es nicht der liebe Gott, sondern der Herr Christus, welcher das Pferd aufforderte, ihn über den Fluß zu tragen. Er tat dies, nicht weil er sonst den Strom nicht hätte überschreiten können, nein, er wollte nur sehen, ob auch die unvernünftige Kreatur sich ihrem Herrn und Heiland erkenntlich zeigen würde.

Als das Roß ihm den Liebesdienst verweigerte, verfluchte er es und strafte es damit, daß es sich sein lebelang nicht satt fressen könne. Dann schritt er auf das Rind zu, welches nicht weit von der Stelle entfernt auf der Wiese graste, und richtete an dasselbe die gleiche Forderung wie an das Pferd. Das sanftmütige Rind gehorchte sofort, nahm den Herrn Christ auf seinen breiten Rücken und durchschwamm dann den Fluß.

»Dein Gehorsam soll nicht unbelohnt bleiben,« sagte der Heiland freundlich und stieg von dem Tiere; »von heute ab soll dir einmaliges Füttern mehr helfen als dem Pferde sein anhaltendes Fressen.« Und so geschah es auch. Das Pferd[89] frißt den ganzen Tag, solange es nur an der Krippe gelassen wird, und wird doch nicht satt. Nur dann ruht es, wenn ihm die Kinnbacken vom Kauen wehe tun; das Rind dagegen ist völlig gesättigt, sobald es eine Stunde gefressen hat.


  • Literatur: U. Jahn, ebenda Nr. 572. Aus Zabelsdorf, Kreis Randow. Vgl. auch Arndt, Märchen u. Jugenderinnerungen 2, 3–4. Max Jähns, Roß u. Reiter I (1872), S. 92. Haas, Rügensche Sagen u. Märchen S. 137 f.

8. Aus Mecklenburg.


Unser Herr Christus wollte mal über einen Bach und bat das Pferd, es solle ihn hinübertragen. Das aber sagte, es hätte nur eine kurze Mittagsstunde und wäre noch nicht satt. Da sprach der Herr Christus: »So sollst du den halben Tag fressen können und doch nicht dick werden.« Darauf kam er zu einem Rinde, und das fraß auch. Als er nun dieses bat, ihn hinüberzutragen, da erwiderte es, es hätte wohl nur eine kurze Mittagsstunde, aber es wollte das doch gern tun. Und Christus sprach zu ihm: »So sollst du dich von nun an in einer Stunde dick fressen können.«

Darum kann man ein Pferd nicht in einem halben Tage dick füttern, aber ein Rind frißt sich in einer Stunde satt.


  • Literatur: Bartsch, Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg 1, 523.

9. Aus Ostpreußen und dem Samlande.


Als der liebe Gott mal auf der Erde rumging, beanspruchte er irgendeine Gefälligkeit vom Pferd, aber das Pferd blieb ruhig stehen, fraß weiter und sagte: »Ich hab' keine Zeit.« – »Na,« sagte der liebe Gott, »dann friß, daß du nimmermehr satt wirst!« Und so ist es bis auf den heutigen Tag: das Pferd gnagt immerzu; und wenn's etwas bekommt, bleibt's in einem Fressen.


  • Literatur: Lemke, Volkstüml. in Ostpreußen 2, 23, Nr. 44.
    Vgl. Frischbier, Zur volkstümlichen Naturkunde, Beitr. aus Ost- u. Westpreußen = Altpreuß. Monatsschr. 22 (1885), S. 226. Reusch, Sagen des preuß. Samlandes, 2. Aufl., S. 35 f.

Verknüpfung des Stoffes mit anderen Motiven. Erweiterungen.

1. Aus Mecklenburg.


Der Herr Christus wollte einst durch ein Wasser. Da ein Pferd ihn nicht hinüberbringen konnte, mußte er sich eines Ochsen bedienen. Der Ochs trat im Wasser auf einen Krebs und trat ihm einen Fuß ab. Als nun der Krebs fortwährend jammerte, sagte ihm der Herr tröstend: »Sei nur stille, du sollst alle Jahre einen neuen Rock haben.«

Seitdem wechselt der Krebs alle Jahre.


  • Literatur: Bartsch, Sagen, Märchen u. Gebräuche aus Mecklenburg 2, 523.

2. Aus Rügen.


Unser Herr Christus wollte einst auf einem Pferde durch einen Fluß reiten. Damals aber hatten die Pferde ihre Augen noch an den Füßen. Deshalb sagte das Pferd zu dem Herrn: »Nun werden aber meine Augen naß werden.« Da ordnete Christus an, daß fortan die Pferde ihre Augen im Kopfe tragen sollten. Und so geschah es auch. Die Stellen aber, wo die Augen früher gesessen haben, sind noch heutigentags sichtbar. Denn alle Pferde haben dort kleine hornartige Gewächse.


  • Literatur: A. Haas, Rügensche Sagen und Märchen 1891, S. 136.

[90] 3. Lettische Variante.


Das Pferd will den Herrn nicht über den Fluß tragen und wird darum verdammt, von Fliegen auf der Weide geplagt zu werden; der Stier jedoch tut es und darf darum auch ruhig und ungestört weiden.


  • Literatur: Živaja Starina 5, 438.

4. Aus Estland.


a) Von dem Pferde verlangte einst der Herr, da er noch auf Erden wandelte, es solle ihn über einen Fluß tragen, aber es erwiderte: »Ich habe nicht Zeit, ich muß fressen.« Ebenso weigerte sich auch das Schaf, aber der geduldige Ochs trug ihn hinüber. Dafür kann nun der Ochs immer während der Zeit des Ruhens von der Arbeit sich satt essen, Pferd und Schaf aber müssen immer grasen, ohne sich sättigen zu können.


  • Literatur: Wiedemann, Aus d. inn. u. äuß. Leben d. Esten. S. 451.

b) Jesus wollte über einen tiefen Fluß gelangen und befahl dem Schafe, das am Ufer weidete, ihn hinüberzutragen. Aber das Schaf antwortete: »Meine Beine sind noch zu dünn, ich vermag es nicht!« Jesus ging weiter. Ein Pferd graste am Flußufer. Jesus sagte, es solle ihn über den Fluß tragen. Das Pferd antwortete, es habe keine Zeit, es fresse Gras. Weitergehend kam Jesus zu einem Ochsen. Der Ochs war gleich bereit, Jesus hinüberzutragen. Beim Schwimmen war der Ochs mehr auf die eine Seite gesunken, und darum ist bei ihm die eine Weichenstelle tiefer als die andere. Zur Strafe dafür, daß das Pferd ruhig weiterfraß, statt Jesu Bitte zu erfüllen, muß es auch jetzt beständig fressen. Das Schaf, das sich mit seinen dünnen Beinen entschuldigte, hat diese Beine behalten, und sie sind ihm nicht dicker gewachsen bis auf den heutigen Tag.1


c) An einem Bache grasten Pferde und Ochsen. Ein alter grauer Mann kam und bat das Pferd, ihn über den Bach zu tragen. Das Pferd antwortete: »Ich habe keine Zeit, ich fresse!« Der Greis ging zum Ochsen. Der lud ihn freundlich auf den Rücken und trug ihn hinüber. Am jenseitigen Ufer angelangt, sagte der Mann zum Ochsen: »Du brauchst fortan niemand mehr auf dem Rücken zu tragen, und mit deinem Herrn gleichzeitig sollst du satt werden. Aber das Pferd soll niemals satt werden und muß sein lebelang andere auf dem Rücken tragen!«


[Das Folgende gehört nicht hierher. Da aber das Märchen bisher ungedruckt und sonst kaum zugänglich ist, setze ich die Fortsetzung mit hierher.]


Der Alte ging weiter und kam an die Pforte eines Reichen. Er bat um Nachtlager. Der Reiche wies ihn ab, er habe nicht Raum für jeden alten Wanderer, der so des Weges komme. Er kam zu einem Armen. Der nahm ihn freundlich auf. Da er keinen anderen Raum hatte, führte er ihn in den Dreschraum, wo das Korn des Dreschens wartete. Am Morgen will der Alte beim Dreschen helfen und fragt: »Was wünschst du mehr zu haben: Kaff oder Korn?« »Kaff wäre gut, aber Korn ist doch noch besser!« antwortet der Wirt. Der Alte steckt die Hand in den Darrraum, und das Getreide brennt, aber das Haus wird nicht versehrt: das Riegenzimmer ist voll gereinigten Kornes. Als der Reiche davon hörte, wollte er es nachmachen.[91] Aber sein Feuer verzehrte sein ganzes Haus. Man glaubt, der Alte sei der Feuergott selbst gewesen und habe sein besonderes Feuer gehabt. Als des Reichen Gut niedergebrannt war, richtete sich sein ganzer Neid und Haß gegen den Armen. Er wollte ihn umbringen. Er nahm eine leere Tonne, stopfte den Armen hinein, lud ihn auf den Wagen und wollte ihn zum Fluß fahren, um ihn zu ertränken. Vor einem Kruge machte er Halt und ging hinein. Der Arme seufzte in der Tonne. Ein Knochenhauer kommt mit einer Herde Kühe, Ochsen und Schafe und hört das Seufzen. Er geht näher und fragt, warum er seufze und weshalb er in der Tonne sei. »Ach,« sagt der Arme, »ich soll Bischof in Petersburg werden und habe keine Stimme und kann die Sprache nicht und weiß nicht, was beginnen!« Der Fleischer erwidert schnell: »Ich käme damit gut zurecht, wenn wir nur tauschen könnten! Ich habe eine Stimme wie ein Ochs und kenne zwölf Sprachen. Laß mich in die Tonne und ich gebe dir alle meine Tiere!« Sie taten es. Der Arme zog mit der Herde fröhlich heim, und der Reiche stieß den Fleischer mit der Tonne in den Fluß. Zu Hause angekommen, hörte der Reiche, daß der Arme mit einer großen Herde heimgekehrt sei, der ganze Hof wimmele von Vieh. Der Reiche schickte seinen Sohn hinüber, die Sache zu erforschen. Der Arme sagte, er habe sie aus dem Fluß getrieben, je länger die Peitsche, um so größer die Herde. Der Reiche und sein Sohn machten sich Peitschen und gingen zum Fluß. Der Vater sprang gleich mitten hinein und wurde vom Strom ergriffen, nur sein Haar stieg noch einmal auf das Wasser. Der Sohn rief: »Vater, gib acht, ein Bock, schwing die Peitsche!« und sprang ebenfalls hinein.

So fand dieses neidische Geschlecht sein Ende.


d) Lied der Setukesen in Estland.


Jesus und Maria fahren entlang eines Flusses und möchten hinübersetzen. Da begegnet ihnen eine Kirche, und Jesus bittet, sie möchte das Hinübersetzen bewerkstelligen. Die Kirche erwidert, sie könne das nicht tun. Morgen komme ein heiliger Tag, da ströme das Volk in die Kirche, Blauröcke und Gelbpelze, da sängen die Pfaffen viel und riefen die Schulkinder wie Kuckucke. Hierauf spricht Jesus: »Hier rufen nicht Schulkinder, singen nicht die Pfaffen viel, hier singen die Bremsen viel, lassen Sommervögel ihren Sang erschallen.« Jesus und Maria fahren weiter, und ihnen begegnet ein Pferd. Jesus bittet nun dieses, sie über das Wasser zu setzen. Das Pferd erfüllt die Bitte nicht und entschuldigt sich in verschiedener Weise, in den meisten Varianten mit Ackerarbeiten (zweimal mit anstrengenden Hochzeitsfahrten, je einmal mit Fronleistungen auf dem herrschaftlichen Gute und mit eben vollendetem Kriegsdienst und bevorstehendem Pflügen). Die Entschuldigung wird nicht anerkannt, und Jesus spricht einen Fluch über das Pferd aus: Sein Lebensende soll elend und ehrlos sein; wenn es umgebracht wird, am Rande des Waldes oder Sumpfes, so sollen Krähen und Raben in Scharen zu dem Aas kom men. Jesus und Maria fahren wiederum weiter, und ihnen begegnet ein Ochs. Auch ihn bittet Jesus um Beförderung über das Wasser. Der Ochs antwortet, er könne das nicht leisten, der Nacken sei entkräftet, die Hörner gänzlich vermoost; Jesus möge Gold auf den Nacken setzen und Silber auf die Hörner. Jesus tut das, und der Ochs bringt Jesus und Maria über den Fluß. Ein Segen ist der Lohn dafür. Jesus verfügt: Wenn der Ochs geschlachtet wird, da soll gekocht und gelobt, gegessen und gedankt werden, da sollen die Kinder am Tische singen und das Gesinde sich freuen.


  • Literatur: Monumenta Estoniae antiquae 1, 1, Abt. C, S. 26.

[92] e) Parallele Legende von der Arbeit der Frauen.


Die alten Leute wissen zu erzählen, warum die Frau beständig zu arbeiten und zu schaffen bat und nie Zeit hat, während der Mann, der ebenfalls arbeitet, doch Zeit zu einer Nachmittagsruhepause findet und seine Arbeit selbst oft der Art ist, daß er sie ruhend verrichten kann. Als Jesus in Jerusalem einritt, waren die Tore der Stadt verschlossen, und Jesus sagte einer Frau, die in der Nähe war, sie möchte das Tor öffnen. Diese aber sagte, sie habe keine Zeit. »Niemals soll deine Arbeit stille stehen, du sollst niemals Muße haben,« sagte Jesus. Ein Mann kam und öffnete das Tor. Und der Mann hat vollauf Zeit zum Arbeiten und zum Ausruhen.


  • Literatur: b) bis e) entstammen dem handschriftl. Nachlaß von Dr. J. Hurt.

5. Aus Finnland.


Damals, als noch Sankt Peter auf Erden wandelte, kam er einst in ein Gehöft und bat um ein Pferd, daß er weiter fahren könnte. Doch der Bauer dachte: »Diesem wage ich nicht mein Pferd zu geben; wenn der so schlechte Kleider anhat, hat er gewiß auch kein Geld zum Fuhrlohn.« Er sagte deshalb: »Mein Pferd ist auf der Weide dort auf jenem Felde; du sollst es haben, wenn es sich satt gefressen hat.« Petrus fing an zu warten und wartete den ganzen Tag, aber das Pferd hörte nicht auf zu fressen. Es kam der zweite Tag, doch das Pferd fraß noch immer, denn der Bauer hatte es zur Nacht an eine Stelle gebracht, wo es nichts zu fressen fand. Da fragte Petrus: »Sollte es jetzt nicht aufgehört haben zu fressen?« Weil er doch anderthalben Tag gewartet hatte. Aber der Bauer meinte immer: »Noch frißt es immerzu.« Da sagte Petrus: »Mag es drum fressen und sein Lebtag nicht satt werden.« Seitdem fressen die Pferde immerzu, wenn sie nur was zu fressen finden.


6. Sage der Schweden in Estland.


Als unser Herr Jesus Christus noch auf Erden wandelte, kam er einst an einen Bach, den er überschreiten wollte. Eine Menge von Tieren weidete am Ufer. Der Herr wandte sich an das Pferd und forderte es auf, ihn hinüberzutragen. Das Pferd aber antwortete: »Ich habe keine Zeit, ich muß fressen.« Desgleichen entschuldigten sich auch das Schaf und das Schwein mit dünnen und kurzen Beinen. Endlich rief er den Stier herbei und fragte, ob er ihn wohl durch das Wasser tragen könne. »Recht gern,« sagte dieser, »ich werde dich schon gut hinüberbringen.« Der Herr bestieg den Rücken des gefälligen Tieres und kam wohlbehalten an das andere Ufer. Da gab ihm der Herr den Segen, daß er und sein Geschlecht von allen Tieren am wenigsten Zeit zum Fressen nötig haben und so schnell satt werden sollen wie ein Mensch, während das Pferd beständig Hunger spüren werde. Das Schaf solle ebenfalls den schwankenden und unsicheren Gang und das Schwein die Schwerfälligkeit der Bewegung behalten. Daher braucht noch jetzt das Bind nicht mehr Zeit zum Essen als ein Mensch und kann nachher ruhen; das Pferd aber muß immerfort fressen.


  • Literatur: Rußwurm, Sagen aus Hapsal, S. 156, Nr. 166.

7. Aus Småland (Schweden).


a) Als der Heiland und Sankt Petrus miteinander gegangen kamen, baten sie das Pferd, ihnen über einen Bach zu helfen. Aber es erwiderte: »Ich habe keine Zeit, ich muß fressen.« Da sprach der Heiland: »Fortan sollst du immer fressen und niemals satt werden.« Ein Ochs war in der Nähe: den baten sie, und er war[93] gleich bereit, ihnen zu helfen. Da sprach der Herr: »Du sollst fressen, wenn du was kriegst, und kauen, wenn du fertig bist.«


  • Literatur: F.L. Grundtvig, Svenske Minder fra Tjast S. 57 (1882).

b) Da der Heiland auf der Erde umherwanderte, langte er an einem Bache an. Da sprach er zu dem Schafe: »Trage mich über den Bach!« »Nein,« antwortete das Schaf, »ich habe keine Zeit, muß mich satt fressen.« – »Jawohl,« sagte der Heiland, »immer sollst du essen und nimmer satt werden.«

Der Heiland wandte sich zunächst an das Pferd. »Trag mich über den Bach.« »Ich habe keine Zeit, ehe ich heute abend mit meinem Fressen fertig bin.« – »Jawohl, und du sollst fressen sowohl Nacht als Tag.«

Da wandte sich der Heiland an den Ochsen. »Trag mich über den Bach!« Und der Ochs gehorchte ihm, verließ sein Pressen und trug ihn über den Bach. »Ja,« sprach der Heiland, »du sollst satt werden wie der Bauer.« Und so geschah es, das Schaf kann sich nimmer satt fressen, das Pferd frißt Tag und Nacht, der Ochs wird so geschwind satt wie der Bauer.


  • Literatur: Cavallius, Wärend 2, XXXVIII.

8. Dieselbe Sage kennt man auch in Upland. Nach einer Erzählung aus Angermanland sollte das Schaf den Heiland begleiten, entdeckte aber im selbigen Augenblick ein grünes Blatt an einem Hügelchen und sprach: »Zuerst muß ich die Blätter auf dem Hügelchen haben.« Seit der Zeit will das Schaf immer fressen und wird niemals satt.


  • Literatur: Cavallius 2, XXXIX.

9. Aus Norwegen.


Einst langte die hl. Jungfrau an einem Flusse an und konnte nicht hinüber. Eine Kuh stand da und fraß. Maria bat sie, ihr über den Strom zu helfen. »Ich habe keine Zeit,« erwiderte sie, »ich muß fressen.« »Friß du nur, du wirst fressen und nimmer satt werden.« Darum frißt die Kuh so viel, und wenn sie müde vom Fressen ist, kaut sie nochmals das Gefressene. Maria bat das Schaf, sie zu tragen. »Nein, ich bin zu schwach, vermag das nicht!« – »Nun wohl,« sprach Maria, »du sollst immer schwach bleiben, daß du wirst niemand tragen können.« Und sie fragte noch Pferd und Renntier, ob sie Zeit hätten, sie über den Fluß zu tragen. »Ja, sie hätten Zeit genug, könnten nachher fressen.« Und Maria sagte dem Renntier: »Weil du mich tragen wolltest, sollst du wenig Futter bedürfen und wirst leben können, ob du nur alle Tage ein bißchen ›renmose‹ [cladonia ranziferina] erhalten könnest.« Und zu dem Pferde sprach sie: »Du trugst mich über den Fluß und warst um dein Fressen nicht besorgt. Geschwind wirst du satt werden, und stark sollst du werden, daß du jeden Mann, ohne besonders die Bürde zu merken, tragen kannst.«


  • Literatur: O. Nicolaissen, Sagn og eventyr fra Nordland 2 (1887), S. 17.

Fußnoten

1 Der Erzähler bemerkt, daß hier wohl Jesus genannt wird, die Erzählung selbst aber eher in die heidnische Zeit gehört und man wohl einen heidnischen Gott mit Jesus verwechselt haben wird. Vgl. oben den littauischen Mythus.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 94.
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