I. Der Bär.

[99] 1. Weißrussisch.


a) Der Bär ist ein verwandelter Mensch, der Gott erschrecken wollte, indem er unter eine Brücke kroch und brummte.

b) Er wollte Gott erschrecken, indem er sich den Pelz umgekehrt – das Fell nach außen – anzog und sich auf Hände und Füße stellte.


  • Literatur: Federowski, Lud białorusski Nr. 742, 743.

2. Aus dem Gouvernement Charkow.


Der Bär, sagen die Bauern, war früher ein Mensch; er trinkt auch jetzt noch Wasser, ißt Brot, geht auf den Hinterpfoten, tanzt und hat keinen Schwanz.

In alten Zeiten wanderten der hl. Petrus und der hl. Paulus durchs Land. Es traf sich, daß sie in der Nähe einer Brücke durch ein Dorf mußten. Die böse Frau und der Mann kamen überein, die heiligen Wanderer zu erschrecken: sie zogen sich umgekehrte Pelze an, versteckten sich an einer einsamen Stelle, und als eben die Apostel die Brücke verlassen wollten, sprangen sie ihnen entgegen und stimmten ein Bärengebrüll an. Da sprachen der hl. Petrus und Paulus: »Von nun an sollt ihr brüllen in alle Ewigkeit!« In diesem Augenblick wurden sie zu Bären.


3. Aus dem Gouvernement Cherson.


Ein Bauer und seine Frau kamen auf den Gedanken, den Heiland zu erschrecken. Sie stellten sich unter einen Damm und schrien: der Bauer brüllte wie ein Bär, seine Frau schrie wie ein Kuckuck. Der Herr verfluchte sie, und seit der Zeit sind sie für immer in einen Bär und einen Kuckuck verwandelt.


  • Literatur: Beide Varianten aus Afanasiev, Narodn. russk. legendy, London 1859, S. XI. Zu 2 vgl. Šejn, Materiali Nr. 187–189.

4. Aus Smolensk.


Dafür daß Gott die Menschen aus dem Paradies vertrieben hat, wollte einst ein Weib den Herrn erschrecken, damit er nicht mehr auf Erden umherwandle. Gott erschrak aber nicht vor dem Gebrüll des Weibes, sondern verfluchte es: »Mögest du für alle Ewigkeit eine Bärin bleiben!« Und so geschah es. Aber weil die Bärin von einer Frau stammt, hat sie die Zitzen an der Brust und nicht am Bauch wie die anderen Tiere.


  • Literatur: Dobrovolskij, Smolenskij Etnogr. Sbornik 1, 288, Nr. 56. Unzugänglich ist mir Žitje i Slowo 1894, 2, 182.

5. Aus Galizien (Rutenisch).


Jesus und Petrus kamen als Bettler an eine Mühle. Der Müller sah sie: »Da kommen irgendwelche Alte! Wart', ich will sie erschrecken!« Sie traten ein, er aber machte hinter der Tür: »Hu!« Und der Herr sprach: »Geh in den Wald, du sollst ein Bär sein und sollst hu! machen bis ans Ende der Welt.«


  • Literatur: Etnografičnij Zbirnyk 12, Nr. 71.

[99] 6. Rumänisch.


Als Gott mit Petrus in eine Mühle kam, wollte ein darin befindlicher Russe sie erschrecken. Er drehte seinen Pelz um und begann hinter der Türe zu knurren. Gott aber sprach zu ihm: »In einen Bären hast du dich verkleidet, ein Bär sollst du sein.« Und so blieb der Russe ein Bär.


  • Literatur: Şezătoarea 1, 181.

7. Polnisch.


a) Als ein Müller den Herrn Jesum, der mit dem hl. Petrus als alter Bettler verkleidet ging, sich der Mühle nähern sah, wendete er das Fell seines Pelzrockes nach außen, schlüpfte hinein, warf sich Jesus zu Füßen und wälzte sich auf der Erde herum. Dafür verwandelte ihn Jesus in einen Bären. Zum Zeichen, daß der Bär vom Menschen abstammt, muß er die ganze Adventszeit die Pfoten saugen, da er die vier Wochen lang nichts frißt.


  • Literatur: Zbiór wiad. do antrop. 7, 3. Abt., 107 f., Nr. 2. Vgl. Pleszczyński, Bojarzy międzyrzeccy. Warschau 1893, S. 155, Nr. 7.

b) Der Bär war ursprünglich ein Müller. Zu den Zeiten der hl. Apostel Peter und Paul wollte der Müller sich überzeugen, ob die Apostel wirklich Heilige wären. Er versteckte sich also unter einer Brücke. Als die Apostel angekommen waren, fing er zu brummen an. Da sagte der hl. Petrus, der Mensch da unter der Brücke solle sich in ein wildes Tier verwandeln. So geschah es auch, und da der Bär vom Menschen stammt, so erhielt sich in seinen Vorderpfoten die Gestalt der menschlichen Hand.


  • Literatur: Zbiór wiadomości do Antropologii Krajowéj 5, Abt. 3, S. 149, Nr. 47.

8. Lettische Variante aus dem polnischen Livland.


Der Bär ist ein verwandelter Müller. Als der einmal badete, sah er einen Greis in grauem Bärte daherkommen. Das war der liebe Gott, der damals noch auf Erden ging. »Den Alten muß ich erschrecken!« dachte der Müller bei sich, nahm zwei Pelze, den einen zog er über die Arme, den andern über die Beine, mit dem Fell nach außen, sprang auf die Straße und fing zu brummen an. Da sagte Gott: »Sei du ein Bär, wenn du so gut brummen kannst.« Zwar wollte man ihm die Pelze abreißen und schnitt mit dem Messer, aber das schmerzte furchtbar, und man mußte es aufgeben.


  • Literatur: Zbiór 15, 265, Nr. 4.

9. Litauisch.


Als der Heiland mit seinen Jüngern auf Erden wandelte, versteckte sich ein Mensch unter eine Brücke und brüllte, um sie zu schrecken; deswegen wurde er vom Herrn in einen Bären verwandelt.


  • Literatur: Etnograf. Obozrěnije, H. 6, S. 139–148, Nr. 3. Vgl. Arch. f. slav. Phil. 19, 259.

10. Estnisch.


Als Jesus in Jerusalem einzog, hatte sich eine boshafte alte Jungfer in eine leere Tonne am Wege versteckt. Als sieh Jesus näherte, fing sie in der Tonne heftig an zu lärmen und zu poltern, um Jesus und seine Eselin zu erschrecken. Jesus fragte, wer in der Tonne sei, und erhielt zur Antwort: »Ein alter Bär!« »Möge es denn von nun an wirklich ein Bär sein!« sagte Jesus. So wurde aus der alten Jungfer der erste Bär. Der weiße Brustfleck des Bären zeugt noch von seiner Herkunft.


  • Literatur: Bisher ungedruckt. Aus der Hurtschen Manuskriptsammlung.

[100] 11. Französisch.


a) Als Gott vorüberging, brummte ein Mensch, und Gott verwandelte ihn in einen Bären, damit er weiter brummen könne.


  • Literatur: Aus den Pyrenäen. Sébillot, Folklore de France 3, 6.

b) Jesus kommt zu einer Mauer, hinter der ein Bauer ist. »Wer ist da?« fragte er. »Ein Bär!« ist die spöttische Antwort. »Sei es so,« erwiderte Jesus, »ein Bär sollst du sein.«


  • Literatur: Aus Béarn. Sébillot 3, 6 = Revue des trad. pop. 4, 361.

12. Aus Lothringen (vom Ende des 18. Jahrhunderts).


Als Gott noch auf Erden lebte, wollte ein Grobian, der im Walde versteckt war, ihn erschrecken und rief: »Oche!« Da sagte Gott: »Oche (Dialekt = Bär) sollst du sein,« und daher stammen die Bären.


  • Literatur: Sébillot, Folklore de France 3, 6.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 99-101.
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