[35] A. Westafrikanische Sage von der Spinne.
Es war einmal ein König, der befahl in allen seinen Städten, ein großes Essen für die Tiere zu bereiten. Als die Spinne dies hörte, beschloß sie überall mitzuessen, so gierig war sie; nur wußte sie nicht, in welcher Stadt man zuerst mit Kochen anfangen würde. Darum rief sie ihre Kinder zusammen und erzählte ihnen von dem großen Essen, und sie freuten sich alle über die Nachricht. Die Spinne nahm nun einen langen Strick und ging mit ihren Kindern die Landstraße entlang bis zum Kreuzungspunkt, von wo die Straßen in allen Himmelsrichtungen nach den Städten auseinandergingen. Da blieb sie stehen und band sich viele Stricke um den Leib, gab je ein Strickende einem Kinde und schickte jedes nach einer anderen Stadt. Sobald eins merkte, daß irgendwo gekocht würde, sollte es am Strick ziehen, damit die Spinne sogleich und ohne Zeitverlust zum Essen kommen könnte.
Nun geschah es aber, daß in all diesen Städten genau zur selben Zeit mit Kochen begonnen wurde. Daher zogen alle Kinder zur selben Zeit aus Leibeskräften, und zwar ganz gleichmäßig stark und gleich lange Zeit. So konnte sich die Spinne nicht vom Platze rühren und kam in gar keine Stadt, und an diesem Tage kriegte sie überhaupt nichts zu essen. Weil aber die Kinder den Leib der Spinne gar so fest einschnürten, so ist dieser bis zum heutigen Tage eingeknickt.
B. Sagen vom eingeknickten Leib der Biene s. Bd. 1, 129 f., der Ameise ebd. 1, 168. 346, des Wolfes 1, 150.
C. Sagen von der verleumderischen Ameise (Spinne).
1. Estnische Sagen.
a) Hirten hatten ein Ameisennest verbrannt, weil die Ameise sie immer sehr scharf biß. Die Ameise war damit nicht zufrieden und hatte doch nicht so viel Kraft, die Hirten dafür zu schlagen, daß sie ihr Nest verbrannt hatten. Sie ging darauf in ihrem Ärger zu Gott hin und klagte heftig über die Hirten, daß diese alle Tage auf der Hütung sehr viele Brotkrümchen auf die Erde verstreuten; aber von der Verbrennung des Nestes durfte sie Gott nichts sagen, dieweil sie selber zuerst die Hirten angerührt hatte. Gott sprach: »Das kann zwar also sein; aber du hast keinen Zeugen, welcher die Wahrheit aussagen könnte. Gehe und hole deinen Zeugen.«
Die Ameise ging, einen Zeugen zu suchen. Im Gehen dachte sie bei sich selber: »Möchte ich mit der Spinne zusammenkommen; selbige könnte wohl dieses richtige Zeugnis zwischen mir und den Hirten sprechen, denn sie lebet ja auch täglich also unter den Hunden auf der Trift (? wird auch von den Hirten und ihren Hunden verfolgt).« Sie kam auch mit der Spinne zusammen und sagte flugs zu ihr: »Komm jetzt, Bruder, als mein Zeuge! Ich gehe wider die Hirten vor Gericht.« Die Spinne fragte, worüber der Streit sei, aber die Ameise sagte ihr nur: »Du sollst kommen! Denn nachher ist es zu spät. Gott selber gibt dir diesen Befehl.«
Als sie vor Gott kamen, da fragte Gott die Spinne: »Die Hirten sollen täglich Brotkrümchen auf die Erde verstreuen, hast du das auch gesehen?« Die Spinne antwortete: »Daran sind die Hirten nicht schuld! sie haben nirgends eine Stätte, wo sie sich friedsam satt essen könnten, auch keinen Brottisch, auf welchem sie das Brot brechen könnten.« Gott sprach: »Das ist ganz richtig, was du da zeugest;[36] aber du, Ameise, wirst zum Lügner, weil du deinen Nächsten ohne Ursache hassest!« Er schlug die Ameise mit einem Stock auf den Rücken und warf sie vom Himmel hinunter, also daß sie mitten durch in zwei Hälften zerfiel. Aber die Spinne ließ er an einem Seile vom Himmel hernieder, dieweil sie die Wahrheit gesprochen. Darum dient der Spinne bis zum heutigen Tage immer ihr Gespinst zum Seile, daß sie nach jeder Seite aufwärts gehen und sich niederlassen kann. Aber die Ameise ist immer in zwei Teilen, so wie sie vom Himmel herniederfallend geworden war, in der Mitte dünn, der Kopf und das Hinterteil dick.
b) Übermütige Hirten hatten viel Brotkrumen fallen lassen. Das sah die Ameise und ging in den Himmel klagen. Die Spinne erfuhr davon und ging, ein gutes Wort für die Hirten einzulegen; sie hätten keinen Speisetisch, sagte sie. Gott erzürnte über die Ameise und warf sie aus dem Himmel. Sie fiel auf einen spitzen Stein und schlug an die scharfe Kante, so daß sie fast auseinanderging. Nur etwas hielt noch. Allmählich verheilte sie, aber die Mitte blieb seit der Zeit so dünn. Als die Ameise sich etwas erholt hatte, ging sie zum Nest, aber die anderen Ameisen wollten sie nicht mehr hereinlassen und verjagten sie. Sie gründete eine neue Familie und ward die Stammutter der jetzigen Ameisen. Die Spinne ward mit einer Schnur herabgelassen. Seitdem hat sie das Spinngewebe und fängt damit Insekten.
c) Die Ameise sah, daß die Hirten wieder beim Essen einige Brotkrümchen auf die Erde fallen ließen. Sie fand, daß der Gabe Gottes ein großes Unrecht geschah, und ging zu Gott (Jumal), um die Hirtenkinder zu verklagen. Kaum hatte die Ameise ihre Klage vorgetragen, als eine Spinne zu Gott kam und sich für die Brotkrümchen bedankte, die sie auf dem Felde bei den Hirtenkindern gefunden hatte. Gott teilte der Spinne die Klage der Ameise mit. Die Spinne entschuldigte die Hirtenkinder und sagte, sie hätten doch keinen Tisch auf dem Felde mit, also sei es gar nicht zu vermeiden, daß einige Krümchen auf die Erde fallen.
Gott gab der Spinne recht. Mit heiligem Zorn warf er die Ameise vom Himmel auf die Erde, so daß sie in der Mitte brach. Aus Mitleid mit ihr knüpfte Gott die beiden Teile wieder zusammen, so daß sie leben konnte. Darum ist der Körper der Ameise auch in der Mitte ganz dünn.
Der Spinne gab Gott einen langen Faden, damit sie ungefährdet die Erde erreichen könnte. Diesen Faden trägt sie nun immer bei sich.
d) Die Ameise verzankte sich mit den Hirtenkindern. Sie ging in den Himmel, um die Hirtenkinder vor Gott (Jumal) zu verklagen. Sie erzählte, die Hirtenkinder ließen Brosamen und Brotkrusten zur Erde fallen.
Die Spinne trat aber als Verteidigerin der Hirten auf und erklärte, es sei unmöglich auf dem Felde zu essen, ohne einige Brosamen fallen zu lassen.
Das war noch zu der Zeit, als die Spinne und die Ameise immer in den Himmel kamen, um Gott von den bösen Taten der Menschen in Kenntnis zu setzen.
Als Gott die falsche Klage der Ameise vernommen hatte, sagte er: »Die Hirtenkinder haben keinen Tisch auf dem Felde. Du hast sie verleumden wollen. Deiner falschen Klage wegen darfst du nie mehr in den Himmel kommen.« Die Ameise wurde vom Himmel hinuntergeworfen. Sie fiel und brach sich den Körper in der Mitte, nur ein kleiner Hautfaden hielt noch den Körper zusammen. So blieb sie. Deswegen ist der Körper der Ameise in der Mitte schmal.
[37] Weil die Spinne der Wahrheit die Ehre gegeben hatte, erhielt sie von Gott einen seidenen Faden, woran sie sich schadlos vom Himmel auf die Erde ließ. Diesen Faden hat die Spinne bis heute behalten, damit sie sich aus jeder Höhe mit Leichtigkeit niederlassen könne.
Auch soll sie das Vorrecht behalten haben, Gott im Himmel zu besuchen, und soll bis heute Gott von den Taten der Menschen in Kenntnis setzen.
e) Die Ameise fand auf der Erde, wo die Hirtenknaben gegessen hatten, Brotkrumen herumliegen. Sie ging zum Himmelsvater und klagte ihm über diese Verschwendung. Die Spinne aber ging auch zu Gott, um die Hirtenknaben zu verteidigen und Fürbitte für sie einzulegen, und sagte: »Wenn die Hirten nicht einiges fallen ließen, wovon sollten wir dann leben?« Da wurde Gott über die Ameise so zornig, daß er sie vom Himmel herunterwarf, wobei diese kopfüber stürzend sich so beschädigte, daß sie fast in der Mitte auseinandergegangen wäre; nur etwas hielt noch zusammen, wie man es heute noch an der Ameise sehen kann. Der Spinne aber schenkte Gott zum ewigen Andenken eine seidene Schnur, daran die Spinne behutsam und zart vom Himmel auf die Erde herabgelassen wurde.
f) Die Ameise ging zum Himmelsvater klagen, die Hirtenknaben hätten, auf einem Stein essend, alle die Brotkrumen, die auf ihren Rock gefallen waren, auf die Erde geschüttelt. Das erfuhr die Spinne und eilte auch zu Gott, um für die Angeklagten ein gutes Wort einzulegen. Sie erklärte, daß die Hirtenknaben keinen Tisch gehabt hätten und die Krumen wohl deshalb auf die Erde gefallen seien. Altvater glaubte der Spinne und warf zürnend die Ameise aus dem Himmel gegen den Stein, auf dem die Hirten gegessen hatten. Fallend brach sich die Ameise an mehreren Stellen das Rückgrat, weshalb sie nun diese Gestalt noch heute hat. Die Spinne ließ Altvater an einem seidenen Faden herab, den sie zum Andenken mitnehmen und aufbewahren sollte.
g) Die Ameise ging Gott klagen, daß die Hirten Brotkrumen auf die Erde würfen und mit Füßen träten. Da fragte Gott, ob die Ameise einen Zeugen angeben könnte. Die Ameise wies auf die Spinne hin, die täglich bei den Hirten weile und daher wohl um die Sache wisse. Die Spinne ward vorgeladen und befragt. Diese brachte vor, daß die Hirten im Walde keinen Speisetisch hätten und auf dem Rasen ihre Mahlzeit einnähmen, wobei es gar nicht zu vermeiden wäre, daß einzelne Krumen ins Gras fielen, wo sie schwer zu finden wären. Gott sah die Ungerechtigkeit der Klage ein und ward über die Ameise so zornig, daß er sie aus dem Himmel warf. Sie fiel so hart auf die Erde, daß sie sich das Kreuz brach und fast in zwei Teile gegangen wäre, wie man es heute noch beobachten kann. Der Spinne aber gab Gott ein Knäulchen Zwirn, woran sie sich zur Erde herabließ. Dieses Knäulchen trägt die Spinne noch jetzt bei sich und hilft sich damit von jeder hohen Stelle herab.
h) Die Ameise verleumdet die Hirten vor Gott, sie ließen viel Brotkrumen zur Erde fallen und verschwendeten Gottes Gabe. Gott verlangt einen Zeugen. Die Ameise geht und holt die Spinne. Die Spinne steht für die Hirten, sie hätten keinen Tisch und müßten stehenden Fußes essen. Gott sprach die Hirten von Schuld frei. Der Ameise schlug Gott mit seinem Stocke das Rückgrat entzwei, der Spinne aber gab er ein Knäulchen, mit dessen Hilfe sie sich Nahrung verschaffen könnte.
[38] 2. Sage der Schweden in Estland.
Die Ameisen wurden von den Hirtenknaben beunruhigt, da diese ihnen ihre Wohnungen zerstörten. Erzürnt darüber traten sie vor Gott und verklagten die Hirtenkinder, weil sie so viel Brot unnütz verkrümelten. Gott aber antwortete ihnen unwillig: »Die Hirtenkinder haben ja keinen Tisch, an welchem sie essen könnten!« Mit diesen Worten schlug er die Ameisen mit einer Rute über den Rücken. Daher sind sie noch jetzt in der Mitte ganz dünn, vorn und hinten aber dicker.
3. Lettische Sage.
Ein Mann findet einen vielfach geknoteten Faden, der vom Himmel zur Erde niederhängt. Er klettert daran in die Höhe und hört, oben angekommen, wie die Spinne sich beim lieben Gott über die Schlechtigkeit der Menschen beklagt. Der Hirt lasse die Brotkrumen auf die Erde fallen, und wenn er den Hund füttere, werfe er die Gottesgabe einfach auf den Boden. Der Mann nimmt den Hirten in Schutz, er könne ja gar nicht anders handeln, denn er habe doch keinen Tisch mit sich, und der Hund fresse nur von der Erde. Da gab Gott der Verleumderin einen Schlag auf den Rücken, daß sie zur Erde fiel und vom Fall (oder Schlag) einen Buckel bekam.
Seitdem spinnt sie immer aufs neue Fäden und Netze, denn sie möchte gern nochmals in den Himmel gelangen, aber der Buckel macht es ihr unmöglich.
4. Litauische Sage.
Die Spinne beklagt sich bei Gott darüber, daß die Hirten Brotkrumen fallen lassen, und muß zur Strafe die Brotkrumen, die sie zusammengeballt hat, als Blase mit sich herumschleppen.
5. Aus Ostpreußen und Samland.
1. Die Ameisen haben ein zerbrochnes Kreuz. Das ist so zugegangen. Die Ameise fand einst auf dem Felde, wo die ackernden Bauern gegessen hatten, Brotkrumen. Sie nahm sie und ging damit zum lieben Gott. »Sieh, Herr,« sprach sie, »wie der übermütige Landmann deine Gabe mißachtet. Es wäre gut, wenn du ihm den Segen des Fel des vorenthieltest.« Der liebe Gott sah wohl ein, daß die armen Bauern bei ihrer Mahlzeit auf dem Felde kein Tischtuch unterbreiten konnten, sieh auch mit dem Sammeln der Brosamen nicht aufhalten durften, er ward über den ungerechten Kläger zornig und warf ihn aus dem Himmel.
Kopfüber stürzte die Ameise auf die Erde herab und brach das Kreuz mitten durch, wie man es noch heute sehen kann. (Fischhausen.)
6. Aus Mecklenburg.
De Ameis' hett secht, een Mann wier bäter as tein Frugenslüd' von deshalb: de Mann lett de Krümels von sien Brot uppe Jer fallen un nimmt se nich up; de Frugenslüd' laten 't up'n Schoot fallen un sammeln dat all wedder tosaam.
[39] 7. Aus den Niederlanden.
Ein Hirt setzte sich auf einer Weide nieder, um etwas zu essen. Unglücklicherweise setzte er sich gerade auf ein Ameisennest. Darüber wurde die Ameise böse und ging, ihn bei Gott zu verklagen. »Ich nehme die Spinne zum Zeugen,« sagte sie, »der Hirt wollte mich töten, er haßt mich.« Die Spinne wurde gerufen. »Es ist wahr,« sagte sie, »der Hirt hat sich auf das Nest der Ameise gesetzt, aber das tat er ganz unabsichtlich und keineswegs aus Böswilligkeit.« »Ist es so,« rief Gott entrüstet, »wie kannst du dann, böse Ameise, den schuldlosen Hirten anklagen? Da! das ist deine Strafe.« Er schlug die Ameise mit seinem Schwert und traf sie gerade in der Mitte. Seitdem ist die Ameise halb durchgebrochen.
Nach Rußwurm, Sagen aus Hapsal S. XIX gibt es ähnliche Sagen von der Ameise und Spinne auch in Weißrußland, fast ganz übereinstimmende bei den nördlichen Tschuden im Gouvernement Olonetz. In diesem Zusammenhange darf auch folgende kleinrussische Sage erwähnt werden:
Eine unbekannte Gewalt hat den Teufel mit der einen Ferse an einem Spinngewebe aufgehängt, von der anderen aber führt die Spinne ihre Gewebe bis auf 25 Faden an die Erde hinunter. Der Teufel fragt die Spinne nach den Vorgängen auf der Erde.
Auffallend ist der wesentliche Unterschied, daß die Spinne nicht Gott, sondern dem Teufel Bericht erstattet. Es erklärt sich daraus, daß im Bulgarischen (Naturs. 1, 135) und wohl auch im Slavischen (vgl. ebd. 46 f.) die Spinnen als Geister gelten, die sich gegen Gott empört hatten. Ihre Verbindung mit dem Teufel erscheint daher ganz angemessen. Mit den estnischen und weiter westlich gewanderten Sagen von der Ameise und der Spinne besteht scheinbar keine Verwandtschaft. Doch ist es wohl anzunehmen, daß Gott dort an die Stelle des Teufels getreten ist. Darauf deutet wenigstens der Schlag mit der Rute oder dem Schwert (Var. 1b, 2, 3, 7). Er erinnert an die Peitsche des Teufels, deren Schlag gleichfalls eine Verdünnung des Leibes zur Folge hat (Naturs. 1, 129. 143). Auch wird die Ameise als Geschöpf des Teufels aufgefaßt (ebd. 146. 168. 344). Auf ihn also, und nicht auf Gott, wird man ursprünglich das Zerbrechen ihres Rückgrats zurückgeführt haben.
Wie die handelnden Tiere in vielen Sagen wechseln, so erscheint in Estland mehrmals der Frosch als Verleumder. Wie der Leib der Ameise, so reizte dessen Buckel (vgl. unten S. 42) zur phantastischen Deutung; auch die bräunliche Farbe und die krummen Beine der Kröte haben die Aufmerksamkeit des Sagenerzählers erregt. Es heißt nämlich in folgenden
Sagen aus Estland:
a) Vor alters ist die Kröte schneeweiß und mit geradem Rücken gewesen, auch gerade Beine hat sie gehabt. Die Kröte hat den Hirtenkindern immer viel[40] zu erzählen gehabt, und dafür gaben die Kinder ihr Brot, Fisch, und was sie sonst noch mit hatten. Oft stellte es sich jedoch heraus, daß die Kröte gelogen hatte. Da gaben ihr die Kinder kein Brot mehr. Das ärgerte die Kröte, und sie ging in den Himmel, um die Hirtenkinder vor Gott, dem alten Vater, zu verklagen.
Die Spinne pflegte immer die Brosamen zu verzehren, welche die Kinder beim Essen zur Erde fallen ließen. Sie wußte, was die Kröte im Sinne hatte, und ging auch in den Himmel, um vor Gott für die Hirtenkinder zu stehen. Die Kröte klagte, die Kinder hätten den ganzen Wald voll Brosamen gestreut und überall lägen Brotkrusten umher. Die Spinne sagte, das sei nicht wahr; die Brotkrusten gäben sie den Hunden; und daß einige Brosamen zur Erde fielen, wäre zu entschuldigen, da die Hirtenkinder ja auf dem Felde keinen Tisch mithaben könnten. Gott schalt die Kröte und sagte, einige Brosamen könnten die Kinder fallen lassen, denn das Weidenland sei ihr Tisch. Auch gingen ja die Brosamen nicht verloren, sie dienten den Spinnen, Ameisen und Mistkäfern zur Nahrung. Gott nahm dann die Kröte und schickte sie durch die hintere Tür, welche eine Treppe hatte, hinaus. Die Spinne band einen langen seidenen Faden an den Türgriff und ließ sich daran hinunter. Die Kröte wußte sieh keinen anderen Rat als hinunterzuspringen. Sie fiel auf einen kleinen, spitzen Hügel mitten in einen Sumpf. Auf dem Hügel brach sie ihr Rückgrat und ihre Füße. Ein halbes Jahr brauchte sie, um aus dem Sumpf zu kommen, und hier verlor sie ihre schneeweiße Farbe.
b) Als die Tiere noch sprechen konnten, ging der Frosch in den Himmel klagen, daß die Hirten im Walde Brotkrumen herumliegen ließen. Die Spinne, die zufällig auch gerade im Himmel war, trat hinzu und sagte: »Die Hirten haben ja keinen Speisetisch, wenn sie im Walde ihre Mahlzeit halten!« Zornig warf Gott den Frosch aus dem Himmel. Der Frosch fiel so heftig auf die Erde, daß er sich das Rückgrat brach und nun zur Strafe für seine Verleumdung einen Buckel hat. Die Spinne aber ward an einer seidenen Schnur sanft herabgelassen. Diese Schnur hat die Spinne jetzt noch als Belohnung für ihre fromme Fürsprache.
c) In alter Zeit, als Altvater noch auf Erden ging, hatten die Tiere die Sprache der Menschen. Die Hirten und der Frosch gerieten in Streit. Der Frosch ging in den Himmel und verklagte die Hirten bei Altvater, sie verschwendeten die Gabe, die er ihnen gegeben, und seien böse und vertrieben den Frosch mit dem Stock, wenn er ihnen bei der Mahlzeit zu nahe komme. Die Spinne trat als Verteidigerin auf: die Hirten hätten keinen Speisetisch im Walde. Altvater erzürnte über den Verleumder und warf ihn hinaus. Der Frosch brach sich den Hals. Die Spinne erhielt eine seidene Schnur, die sie immer bei sich trägt. Die Frösche aber sehen alle aus, als hätten sie sich den Hals gebrochen.
d) Mit dem Höcker des Frosches hat es folgende Bewandtnis. Er verklagte einmal bei dem Allvater Kinder, welche im Walde gegessen und dabei Brosamen auf die Erde gestreut hatten. Die Spinne aber rechtfertigte die Kinder damit, daß sie ja gar keinen Tisch gehabt hätten. Da warf voll Ärger der Allvater den boshaften Ankläger auf die Erde, der dabei auf einen Stein fiel und das Genick brach, die mitleidige Spinne ließ er sanft an einem Faden hinab; darum soll man noch jetzt der Spinne kein Leid tun, einen Frosch aber unbedenklich überall erschlagen dürfen.
Buchempfehlung
Nach einem schmalen Band, den die Droste 1838 mit mäßigem Erfolg herausgab, erscheint 1844 bei Cotta ihre zweite und weit bedeutendere Lyrikausgabe. Die Ausgabe enthält ihre Heidebilder mit dem berühmten »Knaben im Moor«, die Balladen, darunter »Die Vergeltung« und neben vielen anderen die Gedichte »Am Turme« und »Das Spiegelbild«. Von dem Honorar für diese Ausgabe erwarb die Autorin ein idyllisches Weinbergshaus in Meersburg am Bodensee, wo sie vier Jahre später verstarb.
220 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro