M. Der Schwanz.

I. Säugetiere.

[47] 1. Aus Ungarn.


Als der Hund und der Hase einmal zusammen reisten, war es ein Hundewetter, und der Hase sagte zu seinem Gefährten, daß es wohl gut sei, ein Feuer anzumachen,[47] denn ihn fror. Als das Feuer gemacht war, wärmte sich der Hund voll Wohlbehagen daran und erlaubte dem Hasen nicht, sich zu nähern. Da stieß der ärgerliche Hase den andern in das Feuer, aber der machte einen Sprung und erwischte den Schwanz seines Gegners. Der Schwanz widerstand nicht, nur ein kleines Stückchen blieb fest. Seitdem haben die Hasen einen so kurzen Schwanz.


  • Literatur: Revue des trad. pop. 12, 480.

2. Aus Siebenbürgen.


Der Fuchs hatte einmal einen recht hungrigen Magen. Wie er nun voll Mißmut darüber seines Weges ging, traf er auf den Hasen. Der war gesättigt und sprang fröhlich herum wie eine Geiß. »Halt, halt!« rief der Fuchs. »Ich mag es nicht leiden, daß so ein Kerl immer lustig ist und sich gebärdet als unsereiner. Gleich sollst du mit mir kämpfen, und da will ich sehen, ob du mit Ehren in der Welt fortleben kannst. Unterliegst du, so bist du mein eigen mit Haut und Haar!« Da zitterte der Hase nach seiner Natur schon im voraus, und als es zum Gefechte kam, da ward er leicht überwunden. »Das Ehrenzeichen gehört dir nicht«, sprach der Fuchs und biß dem Hasen den Schwanz ab und fügte ihn an den seinen. Darum hat er einen so langen Schwanz, und darum hat der Hase einen Stumpfschwanz und eine weiße Schwanzspitze.

Der Hase aber lief eiligst fort. »Du bist dennoch mein eigen!« rief der Fuchs ihm nach. »Denn wessen der Schwanz ist, dem gehört auch, was dran gehangen!« Deshalb betrachtet der Fuchs den Hasen bis heute als seinen vollkommenen Leibeigenen und tötet ihn geradezu, wo er ihn findet.


  • Literatur: Jos. Haltrich, Deutsche Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen, 4. Aufl., S. 313 f.

3. Slovenische Sage.


Der Fuchs beschuldigt den Hasen des Honigdiebstahls. Der Wolf verfolgt den Hasen und reißt ihm den Schwanz aus. Seitdem sind die Hasen stummelschwänzig.


  • Literatur: Sumcov, Etnogr. Obozrěnie 10 (1891), S. 82.

4. Sage der Tscheremissen.


Als der Hase auf dem Eise lief, glitt er aus, fiel und stieß sich den Kopf. Der Hase fragte das Eis: »Eis, bist du stark?« »Das bin ich.« »Wenn du stark wärest, würdest du nicht im Sonnenschein schmelzen.« – Die Sonne ist vielleicht stark? Der Hase lief zur Sonne, fragte: »Sonne, bist du stark?« »Ich bin stark.« »Wenn du stark wärest, würdest du dich nicht hinter den Wolken verbergen.« – Die Wolke ist vielleicht stark? Der Hase lief zur Wolke und fragte: »Wolke, bist du stark?« »Ich bin stark.« »Wenn du stark wärest, so gingest du nicht dahin, wohin der Wind weht.« – Vielleicht ist der Wind stark? Der Hase lief zum Winde und fragte: »Wind, bist du stark?« »Freilich bin ich's.« »Wenn du stark wärest, könntest du einen steinernen Berg bewegen.« – Vielleicht ist der steinerne Berg stark? Der Hase kam zum steinernen Berg herangelaufen und fragte: »Berg, bist du stark?« »Das bin ich.« »Wenn du stark wärest, so nagte die Maus in dich kein Loch.« – Vielleicht ist die Maus stark? Der Hase lief zur Maus und fragte: »Maus, bist du stark?« »Ich bin stark.« »Wenn du wirklich stark wärest, würdest du die Katze nicht fürchten.« – Vielleicht ist die Katze stark? Der Hase lief zur Katze und fragte: »Katze, bist du stark?« »Ich bin stark.« »Wenn du stark wärest, würdest du das alte Weib nicht fürchten.« – Vielleicht ist das alte Weib stark? Der Hase fing an zum Weibe zu laufen, kam und fragte: »Alte, bist du stark?« [48] Das Weib nahm die Ofengabel, schlug damit den Hasen aufs Ohr: das Ohr des Hasen wurde schwarz. Auf den Schwanz schlug sie den Hasen: sein Schwanz wurde kurz. Mit dem Ofenbesen versetzte sie dem Hasen einen Schlag auf den Körper: der Hase wurde zum Sommer graufarbig.


  • Literatur: Journal de la Société Finno-Ougrienne (Suomalais-Ugrilaisen Seuran Aikahauskirja) 13 (1895) S. 59 f.W. Porkka, Tscheremissische Texte Nr. 1.

Variante der Wotjaken.


Zwei Hasen sollen über das Flußeis springend gelaufen sein. Da stürzte der eine von ihnen um, und sein Kopf zersprang. Der andre fragte das Eis: »Eis, bist du der Mächtigste?« – Es folgt nun der Reihe nach Sonne, Wolke, Wind, Berg, und statt der Maus das Wasser, das den Berg aushöhlt. Der Schluß lautet: Dann fragte der Hase das Wasser: »Wasser, bist du der Mächtigste?« Das Wasser sagte: »Gott ist der Mächtigste.« Der Hase fragte dreimal: »Gott, bist du der Mächtigste?« Gott aber zürnte und warf die Axt nach ihm. Sie traf gerade den Schwanz des Hasen, und der Schwanz wurde abgeschnitten. Darum soll der Schwanz des Hasen kurz sein.


  • Literatur: Journal de la Soc. Finno-Ougr. 19 (1901) S. 77 f. Vgl. ferner Natursagen 1, 278, 292.

5. Aus Siebenbürgen.


Es war einmal ein kleiner Junge, gerade so groß, wie du bist, der ging, wenn seine Mutter auf dem Markt war, immer über die Sauermilch her und schnupperte. Da sagte seine Mutter: »Wenn du noch einmal schnupperst, so gebe ich dich dem garstigen Bären!« Kaum war sie wieder fort, husch! lief der Junge gleich zum Topf und schnupperte und schnupperte so lange, bis keine Sauermilch mehr im Topfe war. Jetzt aber fing er an, sich zu fürchten vor seiner Mutter, und in der Angst lief er fort und kam in den Wald. Als er da war, gedachte er an die wilden Tiere, die im Walde wohnen, die würden jetzt kommen und ihn zerreißen.

Was sollte er anfangen? Nun sah er einen dicken Baum. »Du willst da hinaufkriechen, da bist du sicher!« dachte er. Der Baum aber war hohl, und wie er oben war, fiel er hinein, und da war gerade ein Bärennest, und die jungen Bärchen rannten durcheinander, denn sie hatten sich erschreckt. Bald kam auch der alte Bär und brachte Futter und fing an zu brummen: »boboborou!« und die kleinen brummten freudig: »bebebereu!« Nun kannst du dir vorstellen, wie sich der kleine Junge fürchten mußte.

Als aber der Bär oben am Loche stand und die Augen des Jungen sah, so dachte er: »Jetzt ist es aus mit dir!« Denn er meinte, es sei die Katze oder die Schlange drinnen, die fresse erst seine Jungen, dann werde es an ihn kommen. Schnell drehte er sich um. Dabei kam dem Knaben der Schwanz des Bären über das Gesicht. In der Angst faßte er nach ihm, ohne daß er's wußte, und wie der Bär fortsprang, so zog er den Knaben mit hinaus. Der Bär aber glaubte, die Katze habe ihn am Schwanz und sei ihm nachgesprungen und wolle ihn fressen. Da riß er sich schnell wieder los und sprang ins Nest zurück und blieb ganz ruhig. Er hatte so gerissen, daß dem Jungen der Schwanz in der Hand geblieben war, und seitdem hat der Bär einen Stumpfschwanz. Der Junge aber hatte nicht weniger Angst gehabt, das kannst du dir denken. Er lief schnell nach Hause und sprach: »Liebe Mutter, nur einmal noch verzeiht mir, ich will nicht mehr schnuppern.« Da erzählte er jetzt, wie es ihm gegangen sei. »Weil ich fürchtete«, sprach er zu seiner Mutter, »ihr würdet mich schlagen, lief ich in den Wald; da dachte ich an die wilden Tiere, die im Walde wohnen; ich stieg auf[49] einen Baum, um mich zu verstecken, und da fiel ich gerade in das Bärennest; es waren aber nur die Jungen zu Hause, die sahen mich so garstig an und brummten immer: ›Jetzt fressen wir dich!‹ Zuletzt kam der alte Bär und brummte: ›Habt ihr ihn?‹ und die Bärchen brummten wieder: ›Ja, wir haben ihn!‹ Jetzt kam der Fürchterliche ans Loch und machte so feurige Augen, daß ich dachte: ›Nun ist es aus mit dir!‹ Aber der gute Bär warf mich nur hinaus und schenkte mir's noch einmal, drückte mir dies Haarbüschel in die Hand, sprang in sein Nest und ließ mich fortlaufen. So, Mutter, der Bär bekommt mich nicht, wenn ich nicht mehr schnuppere?«


  • Literatur: Jos. Haltrich, Deutsche Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen S. 267 f.

Weitere Sagen vom Stumpfschwanz des Bären und Verwandtes s. Bd. IV, Kap.: Bär (Wolf) und Fuchs.


6. Sage der Cheyenne (Indianer).


Jäger fanden einst junge Bären. Sie spielten mit ihnen und schnitten ihnen Ohren und Schwänze ab. Der eine junge Bär sang, damit die Eltern es erführen: Vater und Mutter seien fort und er würde mißhandelt. Als er sang, hörten die Alten seine Stimme. Die Mutter richtete sich auf, versuchte ihre Kraft an einem großen Baume und zerbrach ihn. Der Vater sagte: »Ich bin groß und mächtig. Wer hat mein Kind genommen?« Und er rollte einen gro ßen Stein und zerbrach ihn. Dann liefen sie beide zu ihrer Höhle. Sie heißt Bears Lodge und ist im Yellowstone Park. Die Bären retteten ihre Jungen, aber seitdem sind die Bären ohne Schwänze.


  • Literatur: Journal of Am. Folklore 13, 188.

7. Negermärchen aus Nordamerika.


Der Hase besuchte einmal ein Schildkrötenpaar, aber als er an deren Wohnung ankam, sagte ihm Trau Schildkröte, daß ihr Mann auf einen Tag zu seinem Blutsverwandten, der Sumpfschildkröte, gegangen sei. Da machte sich der Hase auf, ihm nachzugehen, und als er zur Sumpfschildkröte kam, da saßen sie alle im Hause und erzählten sich Geschichten, und als es 12 Uhr war, gab es Krebsessen, und alle waren sehr vergnügt. Nach Tische gingen sie zum Teich der Sumpfschildkröte herunter und unterhielten sich damit, von einem großen, schrägen Felsen ins Wasser herunterzuschlittern. Dieser Felsen aber war sehr, sehr glatt. Die Sumpfschildkröte krabbelte hinauf, stieß sich ab und rutschte ins Wasser – platsch! Die alte Landschildkröte krabbelte auch herauf, rutschte herunter – platsch! Und der Hase saß auch dabei und lobte sie. Das machte ihnen allen viel Spaß. Als sie nun so mitten im Spiel waren, kam der alte Bär vorbei. Er hörte sie lachen und rief sie an: »He! Leute! Was ist da los? Irre ich mich oder sind das nicht der Hase, die Sumpfschildkröte und der alte Onkel Landschildkröte?« – »Stimmt«, sagte der Hase, »und wir vergnügen uns, als gab es keine schlechten Zeiten mehr.«

»Ei, ei, ei!« meinte der Bär, »schlittern und rutschen und lachen! Und was ist denn mit dem Hasen, daß er nicht mitspielt?«

Da zwinkerte der Hase der Landschildkröte zu, und die stieß die Sumpfschildkröte an, und dann sagte der Hase: »O jemine, lieber Bär, denkst du denn, man kann den ganzen lieben, langen Tag immer bloß schlittern? Ich hab' meinen Spaß gehabt, nun setz' ich mich in die Sonne und laß meine Kleider trocknen. Wir machen immer alles reihum, wenn wir spielen, ich und diese Leute.«

»Möchte vielleicht der Bär auch mitspielen?« fragte die Landschildkröte.

Da lachte der Hase laut auf: »O! Bruder Bär hat zu große Füße und einen zu langen Schwanz, um den Felsen herunterzuschlittern.«

[50] Das ärgerte den Bären, und er sagte: »Kann sein, kann auch nicht sein, jedenfalls fürchte ich mich nicht, es einmal zu probieren.« Da machten sie Platz für ihn, und der Bär kletterte auf den Felsen, setzte sich auf die Hinterbeine, zog den Schwanz zwischen die Beine und fuhr darauf los. Erst ging es ganz langsam, da grinste er, als ob ihm gar behaglich zumute wäre, dann ging es etwas schneller, da grinste er schon ein bißchen ängstlich, zuletzt kam er auf das Glatte, da gab's kein Grinsen mehr, da heulte er, daß man es eine Meile weit hören konnte, fiel ins Wasser wie ein Klotz und brach ritsch, ratsch! den Schwanz ab. Daher sieht er bis zum heutigen Tage unter allen Tieren, die auf der Erde herumlaufen, am drolligsten aus. Als er davonlief, rief ihm der Hase zu: »Bruder Bär, Bruder Bär, Flachssamenumschläge sollen gut für wunde Stellen sein!« So hatte er zum Schaden auch noch den Spott.


  • Literatur: Harris, Nights with Uncle Remus Nr. 21.

8. Sage der Bungee.


[Weese-ke-jah hat die Flut kommen lassen und schwimmt mit zwei Tieren jeder Gattung auf einem ungeheuren Canoe.] Darauf entschloß er sich, eine neue Erde zu machen. Er trug der Otter auf, ins Wasser zu gehen und etwas Erde herauf zu bringen, womit er das Festland machen wollte. Aber als die Otter in ihr heimatliches Element kam, vergaß sie das Wiederkommen. Nachdem W. lange Zeit gewartet hatte, sandte er die Moschusratte aus. Damals war der Schwanz der Moschusratte noch sehr kurz, er war nur wie ein runder Knoten. Die Moschusratte tauchte auch unter, wie ihr befohlen war, sammelte viel Schlamm und kam sogleich wieder an die Oberfläche, aber als Weese-ke-jah die Hand ausstreckte, um ihr den Schlamm abzunehmen, schwenkte sie schnell um und tauchte wieder unter. Weese-ke-jah versuchte noch, sie zu ergreifen, aber er konnte sie nur noch beim Schwanz packen, der sich aber in seiner Hand streckte, so daß die Moschusratte entkam. Seitdem hat die Moschusratte ihren dünnen, langen Schwanz, der weder schön noch nützlich ist. Als Weese-ke-jah so zweimal getäuscht worden war, wurde er voll Zorn und schwor der Otter und der Moschusratte Rache.

Darauf wurde dem Biber befohlen, Schlamm zu holen. Er tauchte unter, brachte Schlamm herauf und gab ihn W., der über das gute Verhalten des Tieres sehr erfreut war. Aus dem Schlamm machte er sogleich eine neue Erde, auch vergaß er die Dienste des Bibers nicht. Statt seines Stumpfschwanzes bekam er einen breiten flachen Schwanz, mit dem er sein Haus bauen kann. Dazu empfing er für seine Gefälligkeit Zähne, die so scharf sind wie eine Axt, damit er die Bäume zum Bau seines Hauses damit schneiden kann.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore 19, 340.

9. Sage der Cherokee.


Sieben Wölfe fingen einmal ein Murmeltier und sagten: »Wir werden dich jetzt töten, um etwas Gutes zu essen.« Aber das Murmeltier sagte: »Wenn man gute Beute macht, muß man sich auch vergnügen. Wenn ihr etwa tanzen wollt, so werde ich euch dazu singen. Ich weiß einen ganz neuen Tanz. Ich lehne mich abwechselnd gegen sieben Bäume, und ihr tanzt in einem fort weiter, wendet um und kommt zurück, je nachdem ich das Zeichen gebe, und bei der letzten Wendung dürft ihr mich töten.« Die Wölfe waren sehr hungrig, wünschten aber doch den neuen Tanz zu lernen und befahlen ihm anzufangen. Das Murmeltier lehnte sich gegen einen Baum und fing das Lied an: »Ha, wie schön, wie schön!« und alle Wölfe tanzten von ihm weg, bis er das Zeichen Hu! gab. Da kehrten sie um und[51] tanzten in einer Reihe zurück. »Das war hübsch!« sagte das Murmeltier und ging zum nächsten Baum und fing das Lied zum zweitenmal an. Die Wölfe tanzten fort, kehrten beim Zeichen um und kamen wieder zurück. »Das war sehr hübsch!« sagte das Murmeltier und ging wieder zum nächsten Baum und fing das dritte Lied an. Die Wölfe tanzten, so gut sie konnten, und jedesmal ermutigte sie das Murmeltier, aber bei jedem Liede nahm es einen andern Baum, und jeder Baum stand etwas näher nach seiner Höhle, die unter einem Baumstumpfe lag. Beim siebenten Lied sagte es: »Nun, dies wird der letzte Tanz sein, und sobald ich Hu! sage, werdet ihr alle umkehren und nach mir laufen. Wer mich greift, mag mich behalten.« So fing es das siebente Lied an und setzte es so lange fort, bis die Wölfe weit von ihm weg waren. Dann gab es das Zeichen Hu! und machte einen Sprung nach seiner Höhle. Die Wölfe kehrten um und waren hinter ihm her, doch schon hatte es seine Höhle erreicht und schlüpfte hinein. Aber gerade als es hineinschlüpfte, erhaschte es der erste Wolf noch beim Schwänze und packte so heftig zu, daß der Schwanz abriß, und seitdem ist des Murmeltiers Schwanz kurz.


  • Literatur: Mooney, Cherokee Myths S. 273. Außerdem s. Bd. 1, 153. 181 f. 267. 2, 57 (Ziege); 1, 155. 2, 57 (Schaf); 1, 152. 341 (Wolf); 1, 202 (Lachs); 2, 83 (Bär).

II. Die Schildkröte.

Aus Louisiana (Kreolisch).


Eines Morgens ganz früh stand das Kaninchen auf und verspürte einen Hunger, daß ihm der Magen knurrte. Es durchsuchte seine Wohnung nach allen Richtungen, fand aber nichts zu essen. Da machte sich's auf zur Gevatterin Hyäne zu gehen, und als es bei ihr ankam, knabberte diese gerade an einem Knochen.

»Holla, Gevatterin, ich wollte mit dir frühstücken, ich sehe aber, du hast nichts Besonderes, was du mir vorsetzen könntest.«

»Die Zeiten sind jetzt schlecht, Gevatter Kaninchen, ich habe nichts Eßbares mehr in meiner Wohnung, bloß dieser Knochen hier ist noch übrig.« Das Kaninchen überlegte eine Weile.

»Nun wohl, Gevatterin Hyäne, wenn du Lust hast, wollen wir auf die Jagd nach Schildkröteneiern gehen.«

»Topp, gehen wir sogleich!«

Die Hyäne nahm Korb und Hacke, und so gingen sie den Fluß entlang zum Walde.

»Gevatter Kaninchen, ich gehe nicht oft auf die Schildkröteneierjagd, ich weiß sie nicht recht zu finden.«

»Sei ohne Sorge, Gevatterin, ich werde jedesmal die Stellen ausfindig machen, wo die Schildkröten ihre Eier hinlegen, und du wirst sie dann ausgraben.«

Als sie an die Ebene des Flusses kamen, fing das Kaninchen an, langsam zu gehen und aufmerksam bald hierhin, bald dorthin zu blicken. Plötzlich blieb es stehen.

»Gevatterin Hyäne, die Schildkröte hält sich für sehr schlau. Sie scharrt die Erde mit ihren Pfoten weg und legt ihre Eier in das Loch, dann tut sie etwas Sand darauf, und zuletzt verstreut sie ein paar Blätter über dem Nest. Siehst du diesen Erdhaufen? Nimm die Blätter ab und grabe mit deiner Hacke, du wirst hier sicherlich Eier finden.«

Die Hyäne tat, wie das Kaninchen sie geheißen, und bald sahen sie eine Menge Eier in der Höhlung glänzen.

»Gevatter«, sagte die Hyäne, »du bist viel schlauer als ich, es behagt mir wohl, dich zum freund zu haben.«

[52] Das Kaninchen teilte die Eier, gab der Hyäne die Hälf te und sprach:

»Gevatterin, ich habe großen Hunger, ich will meine Eier jetzt gleich essen.«

»Wie du willst, Gevatter! Ich will meine zu meiner Frau tragen und sie kochen lassen.«

Sie gingen noch ein gutes Stück und fanden viele Eier. Das Kaninchen aß die seinigen immer gleich auf, die Hyäne mochte keine rohen Eier, darum tat sie alle in ihren Korb.

»Gevatterin«, sagte das Kaninchen, »ich werde müde, ich glaube, es ist jetzt Zeit nach Hause zu gehen.«

»Ich habe genug Eier für heute, Gevatter, kehren wir also um!«

Während sie nun so gingen, dachte das Kaninchen bei sich: »Die Hyäne kann die Schildkröteneier nicht finden, ich habe sie allein gefunden, also gehören sie mir. Ich muß nachdenken, wie ich sie mir wieder verschaffe.«

Schon waren sie beinahe zu Hause, da sagte das Kaninchen:

»Gevatterin, ich habe vergessen, meiner alten Mutter Eier mitzubringen. Du könntest mir wohl ein Dutzend leihen, ich werde sie dir ein andermal wieder geben.«

Die Hyäne gab ihm ein Dutzend Eier, und sie trennten sich. Das Kaninchen legte das Dutzend in seine Hütte, dann ging es wieder zur Hyäne. Und als es in der Nähe ihrer Wohnung war, fing es an zu klagen und sich den Leib zu halten. Die Hyäne kam heraus.

»Was hast du, Gevatter? Es sieht aus, als ob es dir nicht gut ginge.«

»Ach, Gevatterin, die Schildkröteneier haben mich vergiftet. Ich bitte dich, hole schnell den Arzt.«

»Ich laufe, so schnell ich kann, Gevatter!«

Sobald die Hyäne fort war, ging das Kaninchen in die Küche und begann die Eier zu essen.

»Gott sei Dank, ich kann mich heute tüchtig vollstopfen, der Arzt wohnt weit, da habe ich Zeit alles aufzuessen, ehe sie kommen.«

Als es beinahe fertig war, hörte es die Hyäne draußen sagen:

»Es freut mich sehr, Doktor Meerkatze, daß ich Sie unterwegs getroffen habe, mein Freund ist sehr krank.«

Da galt es keine Zeit zu verlieren, das Kaninchen Öffnete das Fenster und sprang hinaus. Die Hyäne kam nun in ihre Hütte, doch sah sie das Kaninchen nicht. Sie ging in die Küche, da lagen die Eierschalen verstreut umher. Das Kaninchen hatte sich schon in Sicherheit gebracht. Gevatterin Hyäne raufte sich die Haare, so außer sich war sie. Dann lief sie gleich dem Kaninchen nach. Das hatte aber so entsetzlich viel gegessen, daß es nicht schnell laufen konnte. Als es sah, daß die Hyäne ihm zu nahe auf den Fersen war, verkroch es sich in ein Baumloch. Die Hyäne rief die Schildkröte an, die gerade des Wegs daherkam.

»Gevatterin Schildkröte, ich bitte dich, bewache das Kaninchen, das mir alle meine Eier gestohlen hat. Ich hole unterdessen meine Hacke, um den Baum umzuhacken.«

»Geh nur schnell, Gevatterin, ich werde den Schelm schon bewachen.«

Als die Hyäne fort war, sagte das Kaninchen:

»Gevatterin Schildkröte, sieh in dies Loch, ob ich Eier darin habe.«

Die Schildkröte sah hinein, da warf ihr das Kaninchen vermodertes Holz in die Augen. Schnell lief die Schildkröte zum Flusse, um sich die Augen auszuwaschen, aber unterdes entschlüpfte das Kaninchen. Und als die Hyäne kam, um den Baum[53] zu fällen, sah sie, daß das Kaninchen schon entflohen war. Da wurde sie so zornig, daß sie zur Schildkröte an den Fluß ging und ihr mit der Axt den Schwanz abhackte.

Darum ist auch bis heute der Schwanz der Schildkröte so kurz.


  • Literatur: Rolland, faune pop. 5, 261.

III. Frösche und Kröten.

Aus Frankreich (Dinan).


Die Kröten waren einst grün und hatten Schwänze, ebenso wie es die Frösche damals hatten; sie verloren diese Vorzüge, als sie einmal einen Menschen gefressen hatten; nun wurden sie auch verdammt, unter der Erde zu leben.


  • Literatur: Sébillot, Folklore 3, 255. Eine andere Erklärung s. Naturs. 2, 17 u. 226.

IV. Vögel.

Außer der malaiischen Sage (1, 329), warum es Vögel mit zu langem Schwanz gibt, sind hier noch einige Sagen von einzelnen Vögeln anzuführen. Weiteres in späteren Kapiteln.


A. Die Schwalbe.

Zu Bd. 1, 143 ff. 281 f. 332 ff. 2, 126. 250 gehört folgende vlämische Sage (aus Brüssel): Die Schwalbe hat einen gegabelten Schwanz, weil sie sieh einst aus den Klauen eines Adlers, der sie gepackt hatte, losgerissen und dabei das Mittelstück eingebüßt hat.


  • Literatur: Ons Volksleven 11, 189 f.

B. Der Habicht.

Altnordische Sage.


Die Pointe, daß die Schwanzform beim Entfliegen der verwandelten Person durch einen Schlag entsteht, findet sich bereits in einer Episode der Hervarar Saga, dem Rätselkampfe zwischen König Heidrek und Odin, der in Gestalt Gests des Blinden ihn überwindet. »Da zog der König den Tyrfing [sein Schwert] und hieb nach Gest dem Blinden; dieser aber verwandelte sich in einen Habicht und flog hinaus durch das Fenster der Halle, das Schwert aber traf den Schweif des Habichts, und dieser hat daher, wie die Heiden glauben, nun immer einen gestutzten Schweif.«


  • Literatur: Das Tyrfingschwert. Eine altnord. Waffensage. Deutsch von Jos. Cal. Poestion S. 64. Vgl. Fornaldar Sögur Nortrlanda, durch Rafn (1829) 1, 487; Grimm, Myth. 4 3, 99. – Hierzu gehört Naturs. 2. 252 (Gabelschwanz der Weihe).

C. Die Wachtel.

Sage der Atakpame.


Die Wachtel war Besitzerin einer Farm, die Krabbe war Herrin des Wassers. Eines Tages hatte die Wachtel, da sie durstig war, von der Krabbe Wasser erhalten und sie hinterher beschimpft. Als die Wachtel wieder um Wasser bat, erlaubte es ihr die Krabbe, aber als sie trinken wollte, packte sie sie und nahm sie gefangen. Die Wachtel sagte: »Laß den Hals los! Wenn du mich am Schwänze packst, muß ich sterben; wenn aber am Halse, so werde ich leben bleiben.« Da ließ die Krabbe den Hals los und packte die Schwanzfedern der Wachtel, da riß sich die Wachtel los, und die Schwanzfedern blieben in der Hand der Krabbe.

Deshalb hat die Wachtel keinen Schwanz mehr; auch trinkt sie seit jenem Tage kein Flußwasser.


  • Literatur: (Gekürzt.) Vgl. Zeitschr. f. afr., ozean. u. ostasiat. Spr., hrsg. von A. Seidel, 6. Jahrg. S. 153. Mitgeteilt von P. Fr. Müller. In franz. übers. bei R. Basset, Contes d'Afrique p. 215.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 47-54.
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