II. Mängel der Befähigung.

A. Vögel, die nicht fliegen.

[229] 1. Sage der Aino.


Als der Schöpfer die Welt erschaffen hatte und wieder in den Himmel zurückgekehrt war, sandte er den Hahn hinunter, der sollte die Welt ansehen und ihm sagen, ob sie gut sei oder nicht. Es war ihm befohlen' worden, dann sogleich wieder zu kommen. Aber die Welt war so schön, daß der Hahn sich nicht trennen konnte und von Tag zu Tag den Aufbruch verschob. Aber Gott war erzürnt über seinen Ungehorsam, streckte seine Hand aus, schlug ihn auf die Erde nieder und sagte: »Wir brauchen dich nicht mehr im Himmel.«

Und darum kann bis heutigentags der Hahn nicht hoch fliegen.


  • Literatur: Folklore Journal 6, 8 = Chamberlain, Aino Folklore p. 8.

2. Sage der Sulka (Neupommern).


Der Vong (Kasuar) konnte früher fliegen, ganz wie die anderen Vögel. Aber er büßte diese Fähigkeit ein, und zwar auf folgende Weise: Eines Tages regnete es sehr. Der Vong saß auf einem Baum und ließ die Regentropfen von sich abrieseln. Da kam das kleine Vögelchen 'a vif und redete ihn folgendermaßen an: »Mein Großvater, hebe deine Flügel doch ein wenig in die Höhe, daß ich darunter schlüpfe und mich vor dem Regen schütze!« Der gutmütige Vong erhörte alsbald die Bitte des Kleinen, und der Vit schlüpfte behende unter einen Flügel. Er war aber ein arger Schelm, nahm Nadel und Faden und nähte den Oberflügel fest an den Körper des Vong. Hiermit fertig, sprach er nochmals: »Mein Großvater, laß mich unter den anderen Flügel schlüpfen, denn hier tropft es durch.« Der Vong war damit zufrieden, und der Vit versteckte sich unter den anderen Flügel, den er nun ganz wie den ersten mit Nadel und Faden befestigte.

Als der Regen aufgehört hatte und die Sonne wieder schien, sagte der Vit zum Vong: »Laßt uns davonfliegen, denn jetzt ist das Wetter wieder schön!« und schnell schlüpfte er aus seinem Obdach hervor und flog von dannen. Als nun der Vong folgen wollte, bemerkte er zu seinem Schrecken, was der Vit angerichtet hatte: wie sehr er sich auch abmühte, es gelang ihm doch nicht, seine Flügel auszubreiten und davonzufliegen; er fiel zur Erde, und seit jener Zeit muß er sich beständig auf dem Boden aufhalten.

Der Vong war sehr erbost und rief dem Vit zu: »Warte nur, ich werde deinen Kot behexen, und dann wirst du sterben«.

Wenn nun der Vit sein Bedürfnis verrichten mußte, setzte er sich so in die Baumkrone, daß sein Kot nicht auf den Boden fallen konnte, um von dem Vong behext zu werden, sondern am Baum hängen blieb. Aber der an den Ästen hängende Kot zog sich allmählich zu einem langen Faden aus und verwandelte sich in eine Schlingpflanze, ›a gilengúi‹, mit schönen roten Blüten.


  • Literatur: »Mit geringen Abweichungen auch auf der Gazellehalbinsel bekannt« Parkinson, Dreißig Jahre in der Südsee S. 694.

3. Aus Togo.


Ehemals lebten der Kasuar und der Nashornvogel gemeinschaftlich auf einem hohen Baum, hatten aber keine Flügel. Der Baum trug Früchte, aber durch das Herumhüpfen der beiden fielen die reifen auf die Erde hinab, so daß nur noch unreife oben an den Zweigen hingen. Sie hatten aber sehr großes Verlangen, die am[230] Boden liegenden Früchte zu essen, die für sie jedoch unerreichbar waren. Da fällt dem Kasuar ein guter Gedanke ein, wie sie dahin gelangen könnten. »Vetter«, sagt er, »wir wollen probieren, uns mittels Federn fortzubewegen.«

Sie machten sich nun gegenseitig Flügel. Der Kasuar war geschickt, aber der Nashornvogel hatte kein Verständnis, er machte seine Sache schlecht. Er zerschliß nämlich die Federn alle ganz klein und schmal, wie die Frauen tun, wenn sie sich Schürzen machen.

Als sie fertig waren, probierten sie die Flügel. Der Nashornvogel konnte auch, dank seiner ihm vom Kasuar gefertigten Schwingen, herrlich fliegen; dieser jedoch platschte sogleich auf die Erde herab und kann sich nun nicht mehr davon aufschwingen, sondern muß immer laufen.


  • Literatur: Zeitschr. f. afr. u. ozean. Spr. 2, 239.

4. Sage der Haussa.


Im Anfang, als alle Dinge geschaffen waren, sagte der Schöpfer zu den Vögeln: »Erhebt euch, und flieget.« Und alle Vögel sagten, indem sie sich erhoben: »Wenn es Gottes Wille ist, wollen wir uns erheben und fliegen.« Nur das Perlhuhn sagte: »Ob Gott es will, oder nicht, ich will mich erheben und fliegen.« [Vgl. S. 176.] Es erhob sich, um zu fliegen, aber es fiel nieder, es erhob sich noch einmal, um zu fliegen, aber es fiel noch einmal nieder. Und Gott sagte zu ihm: »Ich habe den Segen von dir genommen. Du, Perlhuhn, sollst nur deine Füße gebrauchen können


  • Literatur: J.F. Schön, Magana Haussa S. 130.

5. Aus Flandern.


In alten Zeiten konnte das Huhn gerade so gut fliegen wie die Taube, aber es war streitsüchtig und mißhandelte die Taube. Wo sie auch hinflog, immer wurde sie von ihrem Feinde verfolgt. Eines Tages haderten sie wieder, daß die Federn davonflogen; die Taube hatte eine tiefe Wunde erhalten, und das Blut tropfte ihr an den Füßen herab. Da sagte der liebe Gott, der alles mit angesehen hatte: »Hinfort soll das Huhn nicht höher als einen oder zwei Meter fliegen können; aber die Taube soll so gut fliegen wie bisher. Auf diese Weise wird dem Hader ein Ende gemacht werden.« Seitdem können sich die Hühner nur mit Mühe vom Boden erheben, während die Tauben zu den besten Fliegern gehören. Auch haben sie seitdem rote Füße.


  • Literatur: Mont en Cock, Vlaamsche Vertelsels S. 60. Vgl. Revue des trad. pop. 10, 364.

B. Tiere, die das Gehör oder die Sprache verloren haben.

1. Aus Kamerun.


Der Leguan und der Munjole waren sehr befreundet. Der Munjole ging gern zum Fischfang aufs Meer, denn er war ein Fischer. Sehr oft brachte er seinem Freunde, dem Leguan, Fische mit.

Der Munjole war aber ein großer Lügner. Als er eines Tages vom Fischfang heimkam, erzählte er seinem Freunde: »Mein lieber Freund, was ich dir jetzt sage, ist lautere Wahrheit. Ich sah heute ein Tier im Meere, das war sehr groß.«

Da fragte ihn der Leguan: »Mein Freund Munjole, wie groß war denn dieses Tier?« Der Munjole antwortete: »Es war ganz besonders groß. Es war so groß wie mein Schenkel.«

Als der Leguan das hörte, da schrie er laut auf: »Die Lügen (Übertreibungen) des Munjole sind so arg, daß man sie nicht mehr mit anhören kann!« Der Schenkel[231] des Munjole ist nämlich so stark wie eine Nadel. Der Leguan schloß seine Ohren, um die Übertreibungen des Munjole nicht mehr mit anhören zu müssen.

Von der Zeit an kann der Leguan nicht hören.


  • Literatur: Lederbogen, Kameruner Märchen Nr. 39. (»Der Leguan ist eine fast 1 m lange starke Eidechse. Der Munjole ist ein ganz kleiner Vogel, kleiner als der Kolibri, kleiner als ein Fingerglied.«)

2. Sage der Aino.


In alten Zeiten konnten die Hunde sprechen. Folgendes ist der Grund, daß sie nicht mehr sprechen können. Ein Hund lockte einst seinen Herrn in den Wald unter dem Vorwand, er wolle ihm Wild zeigen, ließ ihn aber dann von einem Bären zerreißen. Darauf lief er zur Frau seines Herrn zurück und log: »Mein Herr ist von einem Bären zerrissen worden. Als er starb, befahl er mir, euch zu heiraten«.

Die Witwe wußte, daß der Hund log, aber er drängte sie immer mehr. Da warf sie ihm voll Kummer und Zorn eine Handvoll Staub in das offene Maul. Da konnte er nicht mehr sprechen, und seitdem können alle Hunde nicht mehr sprechen.


  • Literatur: Folklore Journal 6, 8 = Chamberlain, Aino Folklore p. 8.

3. Aus Nordindien.


Agni, der Feuergott, flüchtete sich ins Wasser, um den Göttern zu entgehen [vgl. Bd. VI], aber die Frösche litten durch die Hitze und benachrichtigten die Götter, und die erzürnte Gottheit verfluchte sie, daß ihre Rede nun unverständlich (inarticulate) sein solle.


  • Literatur: Crooke, Pop. Religion and Folklore of North-India 2, 256.

4. Mongolische Sage.


Der Specht war einst ein Diener des Propheten Moses. Er stahl viel und versteckte dann seinen Raub, aber er wußte nicht, daß Moses dies nicht verborgen war. Endlich verlor Moses die Geduld und beschloß, ihn zu bestrafen. Er zog ihm ein Kleid an, das hatte schwarze Streifen auf dem Rücken, und verbot ihm, je Gras oder Fleisch zu fressen, nur dürres Holz sollte seine Nahrung sein. Der Specht wollte sagen: »Es gibt gar nichts zu essen«, aber er brachte nur noch den Laut: »Ki ek« heraus, und niemand konnte ihn mehr verstehen.


  • Literatur: Folklore Journal 3, 328.

5. Sage der Tschuktschen.


Der Wolf, der reichste Hirt des Landes, verspottet den Raben wegen seiner Armut. Der Rabe nimmt die Gestirne vom Himmel, setzt sie aber für großes Lösegeld wieder daran. Ein Teil des Lösegeldes sind zwei Schwestern des Wolfes, die dann seine Zunge um eine Drahtschlinge (loop of twine) winden und ihn für immer der Sprache berauben.


  • Literatur: Amer. Anthropologist 1902, 644.

6. Sage der Kwakiutl.


Der »Große Erfinder« spielt mit dem Kormoran und verliert. Er ist böse und lädt den Kormoran ein, mit ihm Heilbutten zu fischen. Der Kormoran hat wieder Glück, der Große Erfinder aber fängt nichts. Er bietet sich darauf an, den Kormoran zu lausen, und heißt ihn die Zunge herausstecken, damit er die Laus darauf legen könne. Kaum tut dies der Kormoran, als der Große Erfinder ihm die [232] Zunge ausreißt. Dann nimmt er ihm alle Fische weg. Seitdem kann der Kormoran nicht mehr reden.


  • Literatur: Boas und Hunt, Kwakiutl Texts, p. 504 (291). Vgl. oben S. 29. 77. 153.

7. Hottentottische Sage.


Vor Zeiten pflegte der Löwe zu fliegen. Ein paar weiße Krähen ließ er, während er auf Jagd auszog, zur Bewachung der Knochen der von ihm erbeuteten Tiere im Kraale zurück. Aber eines Tages kam der große dicke Frosch, brach die Knochen in Stücke und sprach dabei: Weshalb kann Mensch und Vieh nicht länger leben? Wenn er kommt, so sagt ihm nur: ich lebe dort an jenem Teiche; wenn er mich aufsuchen will, so mag er nur dorthin kommen.

Der Löwe aber, der auf Wild lauerte, wollte just auffliegen, da fand er, daß er nicht fliegen konnte. Zornig kehrte er zum Kraal zurück und fragte die Krähen: »Was. habt ihr gemacht, daß ich nicht auffliegen kann?« Sie erzählten ihm das Vorgefallene. Der Löwe eilte zum Teich und versuchte den Frosch zu beschleichen. Es ge lang ihm aber nicht, ihn zu fangen.

Seit jenem Tage ging der Löwe auf seinen Füßen und begann das Wild zu beschleichen. »Die weißen Krähen aber verstummten gänzlich seit jenem Tage, an dem sie gesagt hatten: Von der Sache läßt sich nichts sagen.«


  • Literatur: Bleek, Reineke Fuchs in Afrika S. 34 (gekürzt).
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 229-233.
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