1. Die Nachtigall (Lerche), die den Hund ruft.

[392] 1. Aus Westfalen.


Man erzählt, die Nachtigall sei eine verwünschte Schäferin. Ihren Bräutigam, einen Schäfer, behandelte sie schlecht und ließ ihn bis spät in die Nacht hinein ihre und seine Schafe treiben. Lange schon hatte sie ihm die Ehe versprochen, aber nie hielt sie ihr Wort, bis der Schäfer endlich einmal im Unmut ausrief: »Ich wünsche, daß du bis an den jüngsten Tag nicht schlafen könnest!« So ist's denn auch gekommen, die Nachtigall schläft auch bei Nacht nicht und singt ihr Klagelied in folgenden Worten: »Is Tid, is Tid – to wiet, to wiet – Trizy, Trizy, Trizy, – to Bucht, to Bucht, to Bucht!« (d.h. 's ist Zeit, 's ist Zeit! Du triebst zu weit, zu weit! Trizy! Trizy! Trizy! (so hieß nämlich ihr Hund) Nach Haus, nach Haus, nach Haus! Der Ruf »to Bucht« ist der gewöhnliche Schäferruf, wenn der Hund die Schafe im Bogen treiben soll.) Darauf pfeift sie noch dreimal und schweigt dann.


  • Literatur: A. Kuhn, Sagen aus Westfalen 2, 75.

2. Aus Mecklenburg.


a) De Nachtigall is 'n verwünschten Scheperknecht. Dorüm secht he noch ümmer: »To Bucht! To Bucht!«

b) Die Nachtigall ruft als verwünschte Schäferin: »David, David, David, drief, drief, drief, drief, to Bucht, to Bucht, to Bucht!«


  • Literatur: Wossidlo, Mecklenburgische Volksüberlieferungen 2, S. 54, Nr. 315.

c) En Scheper hadd 'ne Scheperdiern to Bruut. Oewer dee wier em nich tru un güng abends ümmer wech, un denn muß he ehr Schaap mit höden. As ne dor achter keem, dat se em untru wier, würd he so bös, dat he ehr wünschen ded', se süll Nacht un Dach keen Ruh hebben un ümmer rümquinkeliren. Dor is se to 'ne Nachtigall worden.


  • Literatur: Ebd. S. 867.

3. Aus Pommern.


a) Die Nachtigall war ehemals ein Schäfer, darum singt sie: »David, David, da buchte doch, da hoit doch!«


  • Literatur: Drosihn, Deutsche Kinderreime und Verwandtes Nr. 145.

b) Einst war eine Schäferin, die hatte einen trauten Gesellen als Bräutigam, der sie treu und wahrhaft liebte. Es war aber auch eine böse Hexe, welche die Schäferin deswegen beneidete. Da verwandelte die Hexe das Mädchen in eine Nachtigall; ihr Bräutigam wollte ihr zwar zu Hülfe eilen, aber die Hexe trat ihm[392] entgegen, so daß er nicht von der Stelle konnte. Nun wurde die Nachtigall überaus traurig, und bis auf den heutigen Tag singt sie nichts als ein Trauerlied über das andere. Jeden Vers aber schließt sie mit den Worten: »To Bucht! To Bucht!« als ob sie noch Schäferin wäre und ihre Herde vor sich hertriebe.


  • Literatur: Haas, Rügensche Sagen u. Märchen 1891, S. 146.
    Vgl. Schnurren, S. 108, Var. II: Die Nachtigall ist eine verwünschte Schäferin. (Näheres fehlt.) Sie pflegt noch jetzt ihren Geliebten David kurz vor Sonnenaufgang zu wecken: »David, David! Nu is't Tied, is Tied, is Tied! Stah up, stah up! Hurtig hurtig, to Bucht, to Bucht, to Bucht!« Ebd. S. 100 wird außer dem oben unter 1. angeführten Ruf noch folgende Deutung des Nachtigallenschlages angegeben: David, David, Is Tied, is Tied!

c) Die Nachtigall ist eine verzauberte Schäferin. Ihrem Geliebten, einem treuherzigen Schäfer, hatte sie schon längst die Ehe versprochen. Aber sie zauderte, das Versprechen zu erfüllen; sie behandelte ihren Bräutigam sogar ganz unliebsam.

Einmal mußte er ihre Herde samt der seinigen bis tief in die Nacht hüten. Da rief er zornig aus: »Ich wünschte, daß du bis an das Ende aller Tage nachts nicht ruhen kannst!« Dieser Wunsch ging in Erfüllung, und so soll es gekommen sein, daß die Schäferin in einen Vogel verwandelt wurde, der sein Lied des Nachts, wenn die anderen Sänger des Waldes schweigen, ertönen läßt.


  • Literatur: Haas, Schnurren S. 108 Var. I = Rügensches Kreis- u. Anzeigeblatt, 36. Jhg. Nr. 106 = Bl. f. pomm. Vk. 7, 16.

d) Die Nachtigall ist eine verwünschte Schäferin, weshalb sie auch noch heute Frau Nachtigall genannt wird. Sie hat sich ihr Unheil selbst zuzuschreiben, denn alle Morgen weckte sie die Knechte zu früh. Endlich riß einem von ihnen die Geduld, in seinem Ärger verwünschte er die Schäferin, und sie ward zur Nachtigall.


  • Literatur: U. Jahn, Volkssagen aus Pommern u. Rügen S. 475.

4. Aus der Haute-Bretagne.


Früher hatte die Nachtigall einen Hund, den sie sehr liebte. Einmal band sie ihn an einen Pflock (sicot), als sie spazieren gehen wollte, aber während ihrer Abwesenheit versuchte das Tier loszukommen, zog den Pflock heraus und lief fort. Seitdem klagt die Nachtigall:


»Kaie va, kaie va!

Fuit, fuit! sicot, sicot!«


Andere sagen, die Nachtigall sei ein Jäger gewesen, der vier Hunde hatte. Eines Tages, als er zur Jagd gegangen war, band er sie an einen Pflock und ging in ein Wirtshaus. Währenddessen liefen die Hunde fort.


  • Literatur: Swainson, Folklore of British Birds p. 22.

5. Aromunische Variante.


Ein Hirt, dessen Hund mehr die Herde weidete als er selbst, lief einem Vogel nach, dessen herrlicher Gesang ihm gefiel. Drei Tage und drei Nächte lang verfolgte er ihn, ohne Erfolg. Dann schlief er ermattet unter einem Baume ein. Drei Jahre lang schlief er. Dann kam er zur Herde zurück und fand, daß sie sich bedeutend vergrößert hatte. Die Freude des Wiedersehens war groß. Da kam aber der Wolf und verlangte eine Belohnung, weil er den Schafen während der langen Zeit nichts getan hätte. Der Hirt gab ihm einen Widder. Darüber ärgerte sich der Hund, denn e r hatte ja die Herde so treu beschützt. Aus Kummer verließ er[393] die Herde und verschwand Als nun am nächsten Morgen der Hirt den Hund rief, erschrak er über sein Fehlen. Alles Suchen half nichts. Schließlich betete er zu Gott, er möchte ihm Flügel geben, damit er zu seinem Hund gelangen könnte. Sein Gebet wurde erhört: aus seinem Mantel entstanden zwei Flügel, aus seiner Kappe ein Schopf.

Noch heute ruft er seinen Hund, indem er sich frühmorgens in die Höhe schwingt:


»Ţurliŭ, ţurliŭ, ŭŭ, ŭŭ,

Cut-cut; cut-cut.

Vir-Virŏana mea.«


So rufen nämlich die Hirten ihre Hunde. Und diesen Vogel nennen wir heute Lerche.


  • Literatur: Papahagi, lit. popor. Aromûnilor S. 761.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 392-394.
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