VI. Das Bemalen.

[61] Außer der bekannten Sage vom Bemalen des Stieglitzes und ihren Parallelen (s.u. »Verteilung der Gaben«), sowie den lettischen Sagen vom Bemalen der Kühe (s. Bd. 1, 188–191) sind hier folgende Überlieferungen zu nennen:


1. Aus Brasilien.


Im Anfang gab es keine Nacht, sondern es war immerfort Tag. Die Nacht schlief unten auf dem Grunde der Gewässer. Es gab auch noch keine Tiere. Die Tochter der großen Schlange hatte sich mit einem jungen Manne verheiratet, wollte aber nicht bei ihm schlafen, ehe es nicht Nacht wäre. Die Nacht besaß aber ihr Vater, und sie verlangte, daß diese mitten durch den großen Fluß hervorgeholt würde. Der junge Mann rief seine drei treuen Diener, und die Frau schickte sie zu ihrem Vater, daß sie ihr einen Tucuman1-Kern brächten. Sie kamen zur großen Schlange und erhielten den Kern, doch unter der Bedingung, daß sie ihn nicht öffneten, denn sonst sei alles verloren. Unterwegs hörten sie aus dem Innern den Lärm von Grillen und kleinen Kröten, die des Nachts rufen. Zunächst bezwangen sie ihre Neugierde. Aber als sie weit weg waren, öffneten sie den Kern, indem sie das Harz, das ihn verschloß, überm Feuer zum Schmelzen brachten. Und auf einmal wurde alles ringsum schwarz. In diesem Augenblick sprach die junge Frau zu ihrem Mann: »Sie haben die Nacht losgelassen. Warten wir auf mor gen!« Da verwandelten sich alle Dinge, die durch den Wald hin verbreitet waren, in vierfüßige Tiere und Vögel. Die Dinge im Fluß wurden zu Enten und Fischen. Aus einem Korbe entstand der Jaguar.2 Daher ist er auch gefleckt: die Löcher des Korbes wurden Flecken. Aus dem Schiffer und seinem Kahn bildete sich die Ente. Sein Kopf wurde zum Kopf und Schnabel der Ente, sein Kahn deren Leib, die Ruder deren Beine.

Als die Tochter der großen Schlange den Morgenstern sah, sprach sie zu ihrem Manne: »Ich will den Tag von der Nacht scheiden.« Darauf rollte sie einen Faden zum Knäul und sagte zu ihm: »Du sollst der cujubin sein« (eine Fasanenart mit rotem Gefieder, aber weißem Kopf [Penelope cumanensis]; er singt bei Tagesanbruch). So machte sie den cujubin, malte seinen Kopf weiß mit Ton, seine Beine rot mit bixa orellana und sagte zu ihm: »Du sollst immerdar singen, wenn es zu tagen beginnt.« Danach rollte sie wieder den Faden, streute Asche darauf und sagte: »Du sollst der inambu sein (eine Art Rebhuhn, das zur Nachtzeit singt), um zu verschiedenen Stunden der Nacht und beim Morgengrauen zu singen.« Seitdem haben alle Vögel zu ihrer Stunde gesungen, und alle singen beim Morgengrauen, um den Anfang des Tages zu erfreuen. Als die drei ungetreuen Diener ankamen, verwandelte sie der junge Mann in Affen. Ihr schwarzer Mund und der gelbe Streifen (le liseré), den sie auf dem Arm haben, erinnert noch an das Harz, welches den Kern des Tucuman verschloß und dann über sie strömte.


  • Literatur: Santa-Anna Nery, Folklore brésilien p. 65 (aus Couto de Magalhâes, O Selvagem). Zur Vorstellung, daß das Dunkel gebracht wird, vgl. u.a. die Sage der Papua, worin Quat das Dunkel mit einem Messer durchschneidet und die Morgenröte bringt. Sogleich verkündeten die Vögel den Morgen.

[62] 2. Sage der Çatlō'ltq.


Und Kumsnō'otl nahm einen Farbentopf, bemalte alle Menschen mit bunten Farben und verwandelte sie dann in Vögel. P'a (der Rabe) schrie unterdes immer: »O, das ist schön, bemale mich auch, aber recht bunt!« Darüber ward Kumsnō'otl endlich ungeduldig und bestrich ihn über und über mit schwarzer Farbe. Daher ist der Rabe schwarz.


  • Literatur: Boas, Indianische Sagen von der nordpazifischen Küste S. 64.

3. Sagen der Cherokee.


a) Der Ochsenfrosch ließ sich von einem Zauberer gelbe Streifen auf den Kopf malen, um sich einer schönen Frau wegen, um die er freite, schöner zu machen.


  • Literatur: Mooney, Myths of the Cherokee S. 310.

b) Ein Waschbär, welcher eines Tages einem Wolfe begegnete, machte verschiedene beleidigende Bemerkungen, bis der Wolf zuletzt ergrimmt wurde, sich umwandte und ihn jagte. Der Waschbär lief, so schnell er konnte, und es gelang ihm, einen Baum nahe beim Flusse zu erreichen, ehe der Wolf herankam. Er erkletterte den Baum und streckte sich auf einem Zweig aus, der über dem Wasser hing. Als der Wolf herankam, sah er den Widerschein im Wasser, und da er dachte, es sei der Waschbär, sprang er danach und war beinahe ertrunken, bevor er ganz naß und triefend wieder herauskrabbeln konnte. Er legte sich dann auf den Rasen, um zu trocknen, und schlief ein. Währenddem kam der Waschbär vom Baume herunter und verklebte ihm die Augen mit Kot. Wie der Wolf erwachte, bemerkte er, daß er seine Augen nicht öffnen konnte, und fing an zu wimmern. Da kam ein kleiner brauner Vogel aus dem Gebüsche und fragte ihn, weshalb er schreie. Der Wolf erzählte seine Geschichte und sagte: »Wenn du meine Augen öffnen willst, werde ich dir zeigen, wo hübsche rote Farbe zu finden ist, womit du dich bemalen kannst.« »Gut!« sagte der braune Vogel und pickte an des Wolfes Augen herum, bis das Pflaster fort war. Darauf nahm der Wolf ihn zu einem Felsen mit, an dem Streifen von heller roter Farbe herunterliefen, und der kleine Vogel bemalte sich damit. Und so entstand der Gimpel (Red-Bird).


  • Literatur: Mooney, Myths of the Cherokee S. 289.

4. Sage der Sauks- und Fox-Indianer.


Dem kleinen Vogel Gě'tchī Kánānā wird von Wī'sa'kä ein roter Fleck unter die Augen gemalt als Belohnung für die Mitteilung einer wichtigen Nachricht.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore 14, 229.

5. Sage der Cheyenne.


Früher aßen die Büffel die Menschen. Die Elster und der Falke waren auf Seiten der Menschen. Diese beiden flogen fort von einer Beratung der Tiere und Menschen und brachten es dahin, daß ein Wettlauf stattfinden sollte, und die Sieger sollten die Besiegten fressen. Die Laufstrecke war sehr lang und ging um einen Berg. Der schnellste aller Büffel war eine Büffelkuh, Schnellkopf genannt. Sie glaubte, daß sie siegen würde, und hatte darum dem Wettlauf zugestimmt. Doch die Menschen fürchteten die lange Strecke und machten Medizin zurecht, damit sie' nicht atemlos und müde würden. Alle Vögel und Tiere bemalten sich zum Wettlauf, und seitdem sind sie farbig. Sogar die Wasserschildkröte malte sich rot um die Augen. Die Elster malte sich Kopf, Schultern und Schwanz weiß. Endlich waren alle fertig und stellten sich in einer Reihe auf.[63] Dann liefen alle und machten irgendein Geräusch statt des Singens, das ihnen helfen sollte. Alle kleinen Vögel, Schildkröten, Kaninchen, Coyotes, Wölfe, Fliegen, Ameisen, Insekten und Schlangen blieben bald zurück. Als sie in die Nähe des Berges kamen, war die Büffelkuh allen voran, dann kamen die Elster, der Falke und die Menschen, die übrigen waren zurückgeblieben. Der Staub war so aufgewirbelt, daß man nichts sehen konnte. Um den Berg herum blieb die Büffelkuh die erste, aber die beiden Vögel wußten, daß sie gewinnen würden, und hielten sich nahe hinter ihr, bis sie in die Nähe des Ausgangspunktes kamen; dann flogen sie an ihr vorbei und gewannen den Sieg für die Menschen. Als sie am Ziel waren, sahen sie Vögel und Tiere auf der ganzen Strecke sich zu Tode laufen, und Erde und Felsen wurden rot von ihrem Blut. Darauf sagten die Büffel zu ihren Jungen, sie sollten sich verbergen, da die Menschen sie nun jagen würden, und hießen sie zum letzten Mal getrocknetes Menschenfleisch mitnehmen. Das taten sie und steckten es in ihre Brust unter die Kehle. Darum essen die Menschen diesen Teil nicht und sagen, es sei Menschenfleisch. Seit dem Tage des Wettlaufs begannen die Menschen zu jagen. Aber da Falken, Elstern, Nachtfalken, Krähen und Bussarde damals auf ihrer Seite waren, essen sie sie nicht, sondern benutzen ihre Federn als Schmuck.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore 13, 161.

6. Sage der Ainu.


Die Flußotter wurde vom Schöpfer hinabgeschickt, um die Füchse zu bekleiden. Es wurde ihr gesagt, sie solle sie in Rot kleiden. Die Otter hatte aber ein so schlechtes Gedächtnis, daß sie die Farbe ganz vergaß, ehe sie an die Arbeit ging, und darum machte sie die Röcke weiß. So waren auch die Füchse, als die Ainus sie zuerst entdeckten, von weißer Farbe und nicht rot, wie sie jetzt sind. Der Fuchs war sehr böse über diese Vergeßlichkeit und schalt die Otter tüchtig wegen ihres Leichtsinns und ihrer Pflichtvergessenheit. Weiß war eine zu hervorstechende Farbe, um nach des Fuchses Geschmack zu sein: Um den Fehler wieder gut zu machen, ging die Otter nach einem Fluß, fing einen Lachs und nahm seinen Rogen aus. Dann ließ sie den Fuchs sich hinlegen, machte den Rogen flüssig, rieb ihn über den Pelz und machte so eine rote Farbe statt der früheren weißen. Daher sind die Füchse jetzt rot und nicht weiß wie früher. Der Fuchs war sehr erfreut über die Änderung, und als Dank und Gegenleistung holte er etwas Rinde des Shikerebe-ni (Phellodendron amurense, Korkbaum), kochte sie und färbte die Otter mit der Flüssigkeit, so daß sie die schöne braune Farbe bekam, die sie jetzt hat.


  • Literatur: Journ. of Am. Folklore 7, 33.

Fußnoten

1 Die Frucht dieser Palme umschließt einen Kern »en forme de coco«.


2 l'Once. Über diesen vgl. Santa-Anna Nery S. 244 Anm.


Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 64.
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