D. Rückgabe des geraubten Kindes gegen den Ersatz des Feuerbohrers.

[110] Ein paar Sagen, die zwar keine Naturdeutung enthalten, aber gleichfalls die Tiere als Feuerholer schildern, mögen der Vollständigkeit halber angeführt werden.


1. Sagen der Snanaimua.


a) Vor langer Zeit hatten die Menschen kein Feuer. K·ak·ē'iq, der Mink, wollte dasselbe holen und fuhr deshalb mit seiner Großmutter zu dem Häuptlinge, der das Feuer bewahrte. Sie landeten unbemerkt, und nachts schlich sich Mink zum Hause, als der Häuptling und seine Frau schliefen. Der Vogel TE'gya aber wiegte das Kind. Mink öffnete die Tür ein wenig. Als TE'gya das Geräusch hörte, rief er: »Pq! pq!« um den Häuptling zu wecken. Mink aber flüsterte: »Schlafe, schlafe!« Da schlief der Vogel ein. Mink trat nun ins Haus und stahl das Kind des Häuptlings aus der Wiege. Dann ging er rasch in sein Boot, in dem die Großmutter wartete, und sie fuhren nach Hause. Jedesmal, wenn sie an einem Dorfe vorüber kamen, mußte die Großmutter das Kind kneifen, so daß es schrie. Endlich gelangten sie nach Tlāltq (Gabriola Island, gegenüber Nanaimo), wo Mink ein großes Haus hatte, in dem er und seine Großmutter allein wohnten.

Morgens vermißte der Häuptling sein Kind und ward sehr traurig. Er fuhr in seinem Boote aus, es zu suchen, und als er an ein Dorf kam, fragte er: »Habt ihr nicht mein Kind gesehen? Jemand hat es mir geraubt.« Die Leute antworteten: »Heute Nacht fuhr Mink hier vorüber, und ein Kind schrie in seinem Boote.« In[110] jedem Dorfe fragte der Häuptling, und überall erhielt er dieselbe Auskunft. So kam er endlich nach Tlāltq. Mink hatte ihn erwartet und setzte sich, als er ihn von weiten kommen sah, einen seiner vielen Hüte auf, trat vor das Haus und tanzte, während seine Großmutter Takt schlug und sang. Dann lief er ins Haus zurück, setzte sich einen zweiten Hut auf und trat aus einer anderen Tür in veränderter Gestalt. Endlich trat er als Mink aus der mittelsten Tüř und trug das Kind des Häuptlings auf dem Arme. Dieser wagte nicht, Mink anzugreifen, weil er glaubte, viele Leute wohnten in dem Hause, und sprach: »Gib mir mein Kind zurück, ich will dir auch viele Kupferplatten geben.« Die Großmutter rief Mink zu: »Nimm es nicht!« Als endlich der Häuptling ihm den Feuerbohrer anbot, nahm Mink ihn auf den Rat seiner Großmutter. Der Häuptling nahm sein Kind und fuhr zurück. Mink aber machte ein großes Feuer. So erhielten die Menschen das Feuer.


  • Literatur: Boas, Indianische Sagen von der nordpazifischen Küste S. 55.

b) Im Anfange besaßen die Geister (Verstorbener) das Feuer. K·ä'iq, der Mink, zog aus, die Geister zu bekriegen und ihnen das Feuer zu rauben. Als er an die Häuser der Geister kam, hörte er ein Kind im Hause des Häuptlings schreien. Es hing in seiner Wiege an einem Aste. Er stahl es und trug es nach dem Hause seiner Großmutter. Als die Geister merkten, daß das Kind ihres Häuptlings gestohlen war, verfolgten sie die Flüchtigen. Sie erreichten das Haus K•ä'iqs und sahen ihn vor der Türe tanzen. Er hatte sein Haupt mit Federn bestreut. Da fürchteten sich die Geister und wagten nicht, ihn anzugreifen. Sie sprachen: »Laß uns einen Tausch machen! Was willst du als Entgelt für das Kind haben?« K•ä'iq's Großmutter antwortete: »Nichts will mein Enkel haben.« Die Geister fuhren fort: »Wir haben keine Kleidung. Man hüllte uns nur in gewebte Decken, als wir starben. Willst du die haben? Willst du keine Felle haben? Man gab sie uns, als wir starben.« »Nein«, versetzte K·ä'iq. »Nur Elchfelle gab man uns und gegerbte Hirschfelle, nur den Feuerbohrer gab man uns.« »Gut«, rief nun K·ä'iq, »den will ich.« Sie gaben ihm den Feuerbohrer, und er gab ihnen das Kind zurück.


  • Literatur: Boas, S. 55.

2. Sage der Kwakiutl.


Mink zog aus, um mit den Lâ'lēnoq (Gespenstern) zu kämpfen. Er schlich sich heimlich in das Haus ihres Häuptlings und raubte dessen Kind aus der Wiege. Als der Häuptling der Lâ'lēnoq seinen Verlust bemerkte, verfolgte er Mink, erreichte ihn aber erst, als er schon in seinem Hause angekommen war und dasselbe verschlossen hatte. Er bat nun Mink: »O, gib mir mein Kind zurück!« Mink weigerte sich aber, bis der Häuptling ihm als Ersatz das Feuer gab. So bekamen die Menschen das Feuer.


  • Literatur: Boas, S. 158.

3. Indianersage vom unteren Fraser River.


Im Anfange gab es keine Lachse und kein Feuer. Da hielten die Tiere einen großen Rat, um zu besprechen, wie das Feuer zu erhalten sei. Schließlich wurde beschlossen, den Biber und den Specht (? TS'E'tEm) auszusenden, um beides zu erlangen. Das Feuer war im Besitze des Häuptlings der »Sockeye«-Lachse, der im äußersten Westen wohnte. Biber und Specht reisten dorthin, der erste schwimmend, der zweite fliegend. Als sie in die Nähe der[111] Häuser kamen, die an einem Flusse standen, ließ der Biber den Specht voranfliegen, um zu spionieren. Der letztere kam bald zurück und berichtete, daß zwei Häuser da wären, die an entgegengesetzten Seiten eines Teiches stünden, aus dem die Leute Wasser zu schöpfen pflegten. Da entwarfen die beiden einen Plan und schritten sogleich zur Ausführung. Der Biber grub sich einen Gang von dem Teiche zu dem Hause des Häuptlings und legte sich dann an der Stelle, wo die Leute Wasser zu holen pflegten, nieder, indem er sich stellte, als sei er tot. Bald kam die Tochter des Lachshäuptlings aus dem Hause und lief, als sie den toten Biber sah, sogleich zurück, um die Männer zu rufen. Diese kamen und berieten sich untereinander. Der »Dogsalmon« (O.keta) sagte, indem er ihn umdrehte: »Der Biber ist bekanntlich sehr klug. Ich glaube nicht, daß er tot ist. Gewiß will er etwas hier bei uns.« Der »Cohoesalmon« sagte: »Seine Hände und Füsse sind sehr klug. Mit ihnen verschließt er uns alle Bäche und Flüsse, so daß wir nicht vorbei können. Wenn ich versuche, hinüber zu springen, falle ich in seine Fallen. Gewiß will er etwas von uns.« Da sagte der Frühlingslachs: »Seht ihr nicht, daß er tot ist?« Der Cohoe glaubte es aber nicht und sprach: »Laßt uns ihn kitzeln, dann werden wir ausfindig machen, ob er lebt oder tot ist.« Sie stießen ihn dann in die Seite, so daß er beinahe gelacht hätte. Sie trugen ihn dann, da er sich nicht rührte, ins Haus und schickten sich an, ihn abzuziehen. Gerade in diesem Augenblicke erschien der Specht draußen und setzte sich an dem Teiche nieder. Sobald die Leute ihn sahen, wollten sie ihn fangen. Da öffnete der Biber seine Augen ein klein wenig, und als er sich allein sah, sprang er auf, ergriff das Feuer und die jüngste Häuptlingstochter, die in der Wiege lag, und entfloh durch den Gang, den er sich zuvor gegraben hatte. Zugleich flog auch der Vogel von dannen. Als sie nach SEmia'mō kamen, nahmen sie etwas Zederbast aus der Wiege und warfen ihn in den Fluß. Daher sind dort sehr viele Lachse. Ebenso warfen sie in den Pitt River etwas Zederbast in den Fluß und schufen so viele Lachse. Als sie nach Yale kamen, warfen sie die Wiege samt dem Rinde in den Fluß. Daher sammeln sich dort unterhalb der Schnellen große Mengen von Lachsen.

Der Biber gab den Gespenstern das Feuer. Die Menschen wußten nicht, wie sie es erhalten sollten, und schickten endlich K•ā'iq, den Nerz, aus, dasselbe zu holen. Dieser lieh sich das Messer seiner Großmutter, versteckte es unter seinem Mantel und machte sich auf den Weg zu den Ge spenstern. Er ging zu ihnen ins Haus und sah sie tanzen. Als der Tanz zu Ende war, wollten sie sich baden und waschen. Da sprach der Nerz: »Bleibt hier, ich will euch Wasser holen.« Er nahm einen Eimer und ging zum Ufer hinab. Als er mit dem gefüllten Eimer ins Haus kam und an dem einen der beiden im Hause brennenden Feuer vorüberging, tat er, als stolpere er, und goß das Wasser ins Feuer, so daß es ausging. »O!« rief er, »ich bin gestolpert« und ging zum Wasser zurück, um seinen Eimer wieder zu füllen. Als er wieder ins Haus kam und an dem anderen Feuer vorbeiging, goß er wieder sein Wasser aus, und es war nun ganz dunkel im Hause Da nahm der Nerz sein Messer und schnitt dem Häuptling der Gespenster den Kopf ab. Er streute Staub auf den abgeschnittenen Hals, damit er nicht blute, und lief mit dem Kopfe von dannen. Noch ehe die Leute ihr Feuer wieder angesteckt hatten, wurde der Staub von Blut durchtränkt; die Mutter des Häuptlings merkte es, und als sie nun wieder Feuer gemacht hatten, sahen sie, daß der Kopf ihres Häuptlings abgeschnitten war. Da sprach die Mutter des toten Häuptlings: »Geht morgen dem Nerz nach und kauft ihm den Kopf ab.« Sie taten also und kamen zu seinem Hause. Der Nerz hatte[112] sich zehn Häuser gebaut und sich zehn verschiedene Kleider von seiner Großmutter herstellen lassen. Als nun die Gespenster kamen, erschien er bald auf dem Dache eines Hauses, bald auf dem eines anderen, jedesmal in anderer Kleidung, so daß die Gespenster glaubten, es seien viele Leute dort. Als sie ankamen, sprachen sie zu der Großmutter des Nerzes: »Wir wollen den Kopf unseres Häuptlings für Mäntel eintauschen.« Sie aber versetzte: »Mein Enkel will keine Mäntel haben.« Dann boten sie ihm Bogen und Pfeile an, aber die Großmutter wies auch dieses Anerbieten zurück. Da weinten die Bäume mit den Gespenstern; so betrübt waren sie. Und die Tränen der Bäume waren Regen. Endlich boten die Gespenster ihm den Feuerbohrer an. Den nahm die Großmutter an und gab ihnen den Kopf zurück. Seither haben die Menschen das Feuer.


  • Literatur: Boas, Indianische Sagen von der nordpacif. Küste, S. 42.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 110-113.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon