IV. Die verwandelten Schuppen der Tannenzapfen.

[169] Aus Estland.


Wie die Schuppen der verbrannten Schlangen, so verwandeln sich auch die der Tannenzapfen in Ungeziefer.


a) Ein Bauer ging in den Wald Holz schlagen. Er trat zuerst an eine Fichte heran und gedachte sie zu fällen. Aber aus der Fichte klang ihm eine Stimme entgegen: »Fälle mich nicht! Siehst du nicht, wie mir schon die Tränen zäh aus dem Stamme dringen? Du wirst erfahren, welchen Schaden du leidest, wenn du mir das Leben nimmst!« Da trat der Mann zu einer Tanne und gedachte diese zu fallen, aber die Seele der Tanne rief ihm entgegen: »Fälle mich nicht! Von mir hast du nur geringen Nutzen, denn mein Holz ist knorrig und ästig.« Verdrießlich ging der Mann zu einem dritten Baum: die Erle wollte er jetzt schlagen. Der Baumgeist aber schrie: »Hüte dich, mich zu berühren! Mit jedem Schlage strömt Blut aus meinem Herzen, und Blut wird meinen Stamm und deine Axt färben.«

Auf diese Gegenreden war der Mann ganz bekümmert, ließ ab von seinem Vorhaben und schickte sich zum Heimweg an. Als er aus dem Walde trat, kam ihm Jesus entgegen und fragte ihn, warum er so bekümmert wäre. Er erzählte sein Erlebnis im Walde. Da antwortete ihm der Herr: »Kehre nur um und schlage nieder, was dir vorkommt. Denn von heute an will ich den Bäumen alle Sprache und Gegenrede nehmen.«

Also geschah es, und seitdem erkühnt sich kein Baum, seine Stimme wider des Menschen Axt zu erheben. Dennoch vernimmt man im Walde noch ein leises Säuseln und Blätterrauschen, wenn die Bäume still miteinander flüstern.

Als nun die erste Tanne niedergehauen ward, vergoß sie bittere Zähren, die hernach zu Harz erstarrten. Der Schmerz der Mutter ging aber ihren Kindern, den Tannenzapfen, tief zu Herzen, und sie sprachen zu ihr: »Weine nicht, liebe Mutter, wir wollen es dem Menschen, der so erbarmungslos ist, böse vergelten!« Da verwandelten[169] sich die Schuppen der Zapfen in Wanzen und krochen in die Häuser der Menschen, wo sie noch heutzutage eine arge Qual und Plage sind.


  • Literatur: Harry Jannsen, Veckenstedts Zeitschr. f. Volkskunde 1, 316 f. Vgl. Natursagen 1, 221 f.

b) Als die erste Tanne gefällt war, vergoß sie bittere Tränen, die sich nachher zu Harz verhärteten. Der Kummer der Mutter ging den Kindern, den Tannenzapfen, zu Herzen, und sie sprachen zu ihr: »Höre auf zu weinen, liebe Mutter! Wir werden uns an dem Menschen, der dich so unbarmherzig getötet hat, auf das grausamste rächen!« Darauf verwandelten sich die Schuppen der Tannenzapfen in Wanzen, krochen in die Häuser der Menschen und quälen sie daselbst noch bis auf den heutigen Tag.


  • Literatur: Russwurm, Sagen aus Hapsal Nr. 197, B. Vgl. Eibofolke § 356, 4.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 169-170.
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