IV. Sagen von Tieren, die bei den Menschen leben.

[213] 1. Sage der Fang (am Congo).


Es war einst eine Hungersnot im Tierdorf. Der Hahn bat die Henne um ein Kücken, um dafür Mais zu kaufen, und er verkaufte es gut. Auf dem Rückweg begegnete er dem Tiger, legte einen Fuß unter den Flügel, hinkte und machte ihn glauben, er habe für einen Fuß und ein Kücken das Recht erhalten, stets in das Dorf zu kommen und nach Belieben zu fressen. Der Tiger macht dies nach. Es wird ihm eine Pfote abgehauen, und er wird eingesperrt. Er entkommt aber und läuft zum Hahn. Dieser sagt lachend, daß die Füße der Hähne wieder wüchsen, und fliegt aufs Haus. Dann läuft der Tiger fort, um sich zu pflegen. Der Hahn[213] aber flieht zu den Menschen, da er des Tigers Rache fürchtet. Seitdem leben die Hühner bei uns, und seitdem fressen die Tiger keine Hühner.


  • Literatur: Bull, de la Soc. Neuchât. 16, 245.

2. Aus Togo.


Es geschah eines Tages, daß Huhn und Rebhuhn sich verbrüderten. Sie gingen in den Busch, um Futter zu suchen, aber jedes ging getrennt vom andern. Das Huhn bemerkte ein Raubtier; sogleich lief es zum Rebhuhn und erzählte ihm: »Ich habe unsere Mutter ge sehen, geh du auch und sieh sie dir an.« Sobald das Raubtier das Rebhuhn bemerkte, fraß es dasselbe auf. Als nun das Huhn nach Hause kam, fragte seine Mutter es: »Wo ist denn dein Bruder?« »Ich habe ihn getötet«, war die Antwort. Nun wollte die Mutter das Huhn auch töten und ging [wohl besser: führte es] zu dem Zweck in das Haus eines Menschen. Der stellte eine Falle und fing das Huhn. Dann zog er es auf, bis es ganz erwachsen war. Wenn nun das Huhn seinesgleichen sah, führte es sie alle auch ins Haus. So kommts daß die Hühner bei den Menschen wohnen.


  • Literatur: Westermann, Beiträge zur Kenntnis der Yewesprachen (Zeitschr. f. afrik. u. ozean. Spr. 6, 281).

3. Sage der Mbenga (Coriscobucht).


›Das Huhn lebte früher beim Rebhuhn im Walde.‹ Als einst bei Nacht sehr viel Regen gefallen war und es am anderen Morgen kalt war, sagte das Rebhuhn zum Huhn: »Geh ins Dorf und hole Feuer«. Das Huhn machte sich sogleich auf und ging in einen Hof, wo es viele Pistazien auf der Erde ausgebreitet sah. Es fing an zu essen und gedachte nicht mehr des Feuerholens. Das Rebhuhn wartete unterdessen vergebens auf das Huhn. Es kam nicht wieder. Seitdem findet man das Huhn im Dorfe, das Rebhuhn im Walde.


  • Literatur: R. Basset, Contes d'Afrique p. 395 = Duloup, Huit jours chez les Mbengas, Revue d'ethnographie 2, 228.

4. Aus Rumänien.


a) Ein Sonderling baute ein Haus, das er so gut verschloß, daß nicht einmal ein Insekt hineinkonnte. Der Biene aber gelang es dennoch, und als der Mann diesen Mut und diese Geschicklichkeit sah, bestimmte er, daß die Menschen von der Biene essen sollten, was man sonst nicht ißt. Gott aber bestimmte dazu, daß die Biene Honig, statt Kot von sich geben sollte. Als nun dieser Mann einmal eine Bienenwabe mit Bienen fand, nahm er das Nest mit nach Hause, und seitdem halten die Menschen Bienen.


  • Literatur: Marianu, Insectele, S. 141.

b) Der Schlange flog einst eine Mücke in den Mund, der sie das Leben schenkte unter der Bedingung, daß die Mücke das Blut aller lebenden Wesen koste und ihr dann sage, welches am besten schmecke. Die Mücke probierte überall und fand, daß Menschenblut am besten schmecke. Als sie nun zur Schlange zurückkehrte, traf sie unterwegs die Schwalbe, der sie die Geschichte erzählte. Diese biß ihr die Zunge ab, so daß sie der Schlange nichts erzählen, sondern nur durch Gesten zu verstehen geben konnte, daß ihr die Schwalbe die Zunge abgebissen habe. Deshalb trachtete die Schlange der Schwalbe nach dem Leben; diese aber bat den Menschen um die Erlaubnis, in seinem Hause Schutz zu suchen, da sie seinetwegen ja verfolgt würde. Seitdem baut die Schwalbe ihr Nest in den[214] Häusern; besonders vertraut ist sie mit den Hirten. Die Mücke aber blieb stumm bis heute.


  • Literatur: Papahagi, din lit. pop. a Aromînilor, S. 759. Vgl. Bd. 1, 279 ff. 332 ff.

c) Während einer großen Hungersnot verschloß ein reicher Geizhals seine großen Vorratskammern, obwohl die Armen vor Hunger starben. Da erbarmte sich Gott und sandte eine reiche Ernte; in die Vorräte des Geizhalses aber schickte er die Kornwürmer (calandra granaria L.), die alles auffraßen. Seitdem leben die Kornwürmer in den Speichern der Reichen.


  • Literatur: Marianu, Insectele, S. 91.
Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 213-215.
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