[117] Vereinzelt findet sich der Zug, daß in dem vernichteten Dokument die Adelsrechte des Hundes1 verbrieft waren. Es ist vielleicht kein Zufall, daß sich das Motiv mit zwei weißrussischen Varianten belegen läßt, denn in Band I der Natursagen S. 125 f. Nr. III–V finden wir drei kleinrussische Schwanke von der Erschaffung adliger Herren aus dem Hunde.2
1. Aus Weißrußland.
a) Früher besaß auch der Hund Šljachta-Papiere.3 Nun, man versteht: wie sollte er sich mit ihnen herumschleppen? Er übergab sie dem Kater und bat: »Verwahr' sie, Brüderchen, (früher lebten Hund, Kater und Mäuse miteinander in Freundschaft) unter dem Dach, wo es hoch ist, dort werden sie heil bleiben.« Der Kater nahm und übergab [die Papiere] den Mäusen zum Verstecken unter den Fußboden, denn er fürchtete, daß sie unter dem Dache jemand finden könnte.
Nun merkte der Hund, daß niemand ihm Achtung erwies, und dachte4 bei sich: »Ich werde ihnen schon zeigen, was für einer ich bin!« Er ging zum Kater, bat ihn, die Papiere herbeizuschaffen. Der kroch zu den Mäusen hinein, – diese aber hatten sie längst aufgefressen. Nun, aus der Zeit stammt dieser Abscheu des einen vor dem andern her: des Hundes vor dem Kater, des Katers vor den Mäusen.
b) Hunde lebten zusammen mit einer Katze, und es fuhren die Hunde nach Wilno zum Gerichtstag und übergaben ihre Adelspapiere zur Aufbewahrung der Katze.
»Kätzchen, liebes Kätzchen, bleib zu Hause, Wirtin, heb uns unsere Papiere auf.«
– »Gut«, sagte die Katze, »ich werde sie verstecken.«
Die Hunde reisten ab, und die Katze fing an, die Papiere durchzusehen. Da sah sie, daß sie ganz feucht und verschimmelt waren, und legte sie auf den Ofen. Hier kamen die Mäuse über sie und zernagten diese Papiere. Die Hunde kamen[117] aus Wilno zurück und fanden keine Papiere mehr. Verloren waren die Adelsrechte. – Seitdem lieben die Hunde die Katzen nicht, und die Katzen nicht die Mäuse.
2. Aus Ungarn.
Wahrlich, so war's! Der Hund ist nicht immer Hund gewesen; nur seitdem ist er's geworden, seit die Mäuse seinen Adelsbrief zernagt haben. Zwar, wann das gewesen, das weiß ich natürlich nicht; ich war nicht dabei, als er geschrieben wurde, denn sonst wüßte ich's; aber das weiß ich bestimmt, daß die Hunde Adelsbriefe hatten. – Denn seht ihr, damals, als Adam sich nicht mit der einen Furche Acker begnügte, die ihm der Herrgott gepflügt und besät hatte, sondern mehr haben wollte, da nahm der Herrgott dem Menschen das Brot und gab es dem Hund und der Katze. Der Mensch aber, um nicht elendiglich zu verhungern, gab dem Hund einen Adelsbrief und kaufte ihm damit das Brot ab.5
Einstmals sprach die Katze zum Hund – damals standen Katze und Hund noch besser miteinander –: »Hör, Kamerad, gib mir diesen Brief! Du wanderst immer von einem Ort zum andern, ich jedoch sitze stets auf der Ofenbank. Ich denke mir so, bei mir ist er besser aufgehoben.« So geschah's auch. Der Hund gab der Katze den Adelsbrief, die legte ihn in die Schublade in der Kammer. Doch schlimm ist es damit gegangen! Die Mäuse zernagten den Adelsbrief. Als dann der Mensch dem Hunde das Brot ganz fortnahm, da hatte der arme Hund das Nachsehen, denn wie konnte er jetzt sein Recht beweisen.
Da warf er einen großen Haß auf die Katze, denn sie hatte ja zugelassen, daß die Mäuse den Brief zernagten. Die Katze aber begann die Mäuse zu verfolgen. Doch da der Hund den Brief nicht wieder zusammenflicken konnte und der Mensch ihm auch keinen neuen gab, so schickte er sich schließlich drein und der arme Hund blieb ohne Brot. Aber seitdem ist es für die Katze kein Spaß mehr, ihm vor die Augen zu kommen; die Katze aber zerreißt die Maus, wo sie sie nur findet, denn ihretwegen hat sie ja die gute Freundschaft des Hundes verscherzt.
Auf das Wohnrecht der Hunde auf der Erde bezieht sich die folgende kleinrussische Version. Die wunderliche Angabe, daß die Hunde früher im Wasser gelebt hätten, ist mir sonst nicht begegnet.
3. Aus Kleinrußland.
Einst ging der Mensch auf die Jagd, traf zwei Tiere und begann sie zu befragen: woher sie wären? Jene antworteten: »Früher wohnten wir im Wasser, aber jetzt werden wir auf der Erde leben.« – »Wie nennt ihr euch?« »Hunde.« – »Wie kann ich mich darüber vergewissern?«
Die Hunde zogen ihre Dokumente hervor und zeigten sie ihm. In der Tat, Hunde. Da sprach er zu ihnen: »Gebt acht, euch ist es nur ein Jahr lang erlaubt auf der Erde zu leben, nach Ablauf dieser Zeit müßt ihr aber wieder zurück in das Wasser.«
Nach einem Jahr begegnete er wiederum denselben Tieren und begann sie zu schelten, weswegen sie auf der Erde lebten, trotzdem die Frist schon verstrichen wäre?
[118] – »Ohne ein Dokument ist es uns nicht möglich ins Wasser zu gehen.« »Wo ist denn euer Dokument?« – »Wir haben es dem Kater gegeben.« »Geht hin und nehmt es dem Kater ab.«
Die Hunde gingen zum Kater und verlangten von ihm ihr Dokument, der aber hatte das Dokument bereits nicht mehr: es war dem Kater von den Mäusen gestohlen und von ihnen aufgefressen. Auf diese Weise mußten die Hunde bis zu der heutigen Zeit auf der Erde bleiben. Darum verfolgt auch jetzt noch der Mensch den Hund, der Hund die Katze und die Katze die Mäuse, und sie werden immer unversöhnliche Feinde bleiben.
1 Adelsrechte des Wolfs vgl. unten S. 125.
2 Über Hunde als Ahnherren handelt Liebrecht, Zur Volkskunde S. 17–25.
3 d.h. Dokumente, die seine Zugehörigkeit zur Šljachta, dem Kleinadel bewiesen.
4 Im Text steht vorher das die innere Unsicherheit des Hundes fein charakterisierende, aber kaum übersetzbare Verbum: okryṷdyṷs'a, womit offenbar zum Ausdruck gebracht werden soll, daß der Hund nach einer beschönigenden Ausrede sich selbst gegenüber suchte.
5 Dieser Eingang deutet vielleicht auf die Existenz einer für sich bestehenden Legende: ›Wie Adam für seine Unbescheidenheit von Gott gestraft wurde‹; nachweisen läßt sie sich indessen meines Wissens nicht. – Zur Anweisung des Ackers durch Gott vgl. Natursagen Bd. I Register s.v. »Adam ackert«.
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