III. Die Eule als Wächterin.

[172] Eine zahlreiche Gruppe der Wettflugvarianten erweitert die Handlung der alten Fabel dadurch, daß in die Verfolgung des Zaunkönigs durch die übrigen Vögel die Eule mit hineingezogen wird. Sie soll vor dem Mausloch wachen, in das sich der Zaunkönig geflüchtet hat, allein sie schläft ermüdet ein und läßt ihn entwischen. Seither wird sie von den Vögeln gehaßt und verfolgt und darf sich bei Tage nicht blicken lassen.

Diese Ätiologie ist natürlich als die am nächsten liegende zugleich auch die typische für alle Eulensagen und wird daher auch mit solchen verbunden, die inhaltlich mit unserer Sage nichts zu tun haben.1

Während diese Geschichten aber bei zahlreichen Völkern und in verschiedenen Erdteilen vorkommen, ist die Verbindung der Eule mit dem Wettflug des Zaunkönigs im wesentlichen auf Mitteleuropa, vornehmlich auf Deutschland beschränkt; und wo sie außerhalb Deutschlands vorkommt (in Holland, Dänemark, bei den Westslawen u.a.), dürfte sie wohl von dort her eingedrungen sein.


1. Vlämische Varianten.


a) Die Vögel kamen einst zusammen, um ›nen König zu wählen. Sie hatten gar lange geplappert und gestritten, aber das Ende vom Liede war, daß sie nichts beschlossen und niemand gewählt hatten. Die Eule, die gut Freund mit dem Zaunkönige war und all des Geschreis und Geschnatters müde wurde, nahm schließlich das Wort und sprach: »Laßt uns denjenigen zum König ernennen, der am höchsten fliegen wird.« Während die andern Vögel sich über diesen Vorschlag berieten, rief die Eule den Zaunkönig beiseite und sagte zu ihm: »Hör' mal zu, Freundchen, du mußt König werden.« – »Aber ich kann nicht hoch genug fliegen,« antwortete das[172] kleine Ding. »Das macht nichts,« sagte die Eule, »ich kann wohl am höchsten fliegen, aber ich will kein König sein. Versteck du dich unter einem meiner Flügel; ich werde so hoch fliegen wie der Beste, und dann kommst du gut ausgeruht zum Vorschein und fliegst uns allemal noch über den Kopf.« So geschah es auch, und der Zaunkönig wurde natürlich zum König ausgerufen. Darum heißt er auch Königsvögelchen (Koningsvogeltje). Aber die anderen Vögel hatten die List der Eule erkannt und, neidisch wie sie waren, kriegten sie alle einen so heftigen Haß auf die Eule, daß sie auf sie zuflogen und einhackten, um ihr auf jede Weise die Augen zu zerstören. Ja, sie hätten die Augen schon aus dem Eulenkopf herausgeholt, wenn sie bloß gekonnt hätten. Um nun aber in Buhe gelassen zu werden und allem Unglück vorzubeugen, ist die Eule gehalten, in der Nacht auszufliegen.


  • Literatur: Cornelissen en Vervliet, Vlaamsche Volksvertelsels S. 222 Nr. 63.

b) De vogelen besloten eens om prijs te vliegen: die hoogst in de lucht geraakte, zou hun koning zijn.

Der Zaunkönig birgt sich unter den Flügeln des Adlers und als dieser fragt: Wer fliegt höher als ich? antwortet er: ich! ich! ich! Die Vögel beschließen ihn zu töten, weil sie keinen so kleinen Vogel anerkennen wollen, und fliegen hinter ihm her.

Maar het klein vogelken vloog in een zeer klein holleken van 'nen ouden tronk, waar niet een van de vervolgers in kruipen kost.

Es wird Nacht, und der Adler beauftragt die Eule, da sie allein im Dunkeln sehen könne, das Loch zu bewachen, damit der Vogel nicht entweiche. Aber die Eule schläft ein und der Vogel entweicht. Am folgenden Tage verfolgten die Vögel die Eule:

»en nu nog kunnen zij hem niet zien of zij zitten er achter en verwijten hem al wat leelijk is.«


  • Literatur: Ioos, Vertelsels I S. 26 Nr. 5.

c) Eens hadden de vogels eene prijsvlucht ingericht: wie hoogst vloog, zou koning zijn. – [Der Zaunkönig hat sich zwischen den Federn des Adlers versteckt, fliegt höher als dieser, wird als Sieger anerkannt, und trägt seit der Zeit den Namen Zaunkönig. Die anderen Vögel schämen sich des winzigen Königs und verfolgen ihn, der sich in eine Baumspalte rettet. Die Eule wird als Wächter davorgesetzt. Ihr fallen in der Nacht vor Müdigkeit die Augen zu, und der Zaunkönig entwischt.] Als die Vögel am andern Tage hörten, daß die Eule in Schlaf gefallen war und den Zaunkönig hatte wegfliegen lassen, waren sie rasend vor Wut und verfolgten die Eule überall, wo sie sie erblickten. Und noch heute sind sie auf das dumme Tier sehr erzürnt, so daß es nur des Nachts ausfliegen darf.


  • Literatur: Mont en Cock, Vlaamsche Vertelsels S. 100 ff.

2. Aus der Provinz Groningen.2


[Die Vögel beschließen in einer Versammlung, nach dem Beispiel der Vierfüßler, einen König zu wählen. Wer am höchsten fliegen könne, solle König werden. Tags darauf beginnt der Wettflug. Alle werden vom »gansarend« (aquila albicilla) überholt. Hier bin ich! ruft er aus der Höhe. Da ruft der Zaunkönig über ihm: Und hier bin ich! Er hatte so lange auf dem Rücken des Adlers gesessen. Der Adler ist wütend, kann aber vor Ermattung nicht weiterfliegen. Die Vögel erkennen[173] aber den Adler und nicht den Zaunkönig an, wiewohl dieser sich auf den Beschluß des vorigen Tages beruft. Von allen verfolgt, flüchtet er in das Loch eines hohlen Baumes. Der Adler beauftragt die Eule, ihn zu bewachen, daß er nicht entschlüpfe.]

So stand nun die Eule auf Schildwacht und schaute mit ihren großen runden Augen nach dem Loch, und jedesmal, wenn der Zaunkönig seinen Kopf heraussteckte, schlug ihn die Eule mit dem Fuß, aber wipps! war dann der Kopf wieder verschwunden. Das dauerte so eine ganze Zeit, und die Eule, die auch mit geflogen war, fing an schläfrig zu werden. So machte sie das eine Auge zu und und guckte allein mit dem andern; endlich aber konnte sie auch das nicht mehr offenhalten und schlief ganz ein. Sobald der Zaunkönig das merkte, flog er weg. Als die Eule ihre Augen wieder auftat, war der Gefangene fort, und darum klagt die Eule noch jetzt unaufhörlich: Er-oet, er-oet! (= er uit! er ist draußen!) Aber der Zaunkönig ruft: Koning, koning ben ik-kik-kik-kik-kik! (König bin ich!). Doch hat er noch immer Angst vor den andern Vögeln und ruft dies nur, wenn er allein ist und sicher weiß, daß kein andrer Vogel in der Nahe weilt.


  • Literatur: Volkskunde 15, 72.

3. Aus Dänemark.


a) Der Adler flog am höchsten, der Zaunkönig, auf seinem Bücken verborgen, noch höher. Der Adler wurde bös, warf den Zaunkönig ins Gefängnis und setzte die Schwalbe zum Schließer. Der Zaunkönig aber entdeckte ein kleines Loch, schlüpfte aus und verbarg sich in einem Zaune. Die Schwalbe wagte darnach nicht vor dem Adler zu erscheinen, sie streicht überall umher, den Zaunkönig suchend und rufend: »vi du hit!« (willst du hier), dieser aber verbirgt sich in Zäunen und Büschen, wo die Schwalbe keine Zeit hat zu suchen.


  • Literatur: Skattegraveren II, 31. 232.

b) Aus Jütland.


Da der Zaunkönig durch seine List König der Vögel geworden, wurde er von den neidischen Vögeln verfolgt und verbarg sich in ein Mauseloch. Die Eule sollte aufpassen, und sie sandten nach dem Storche, um ihn herauszuziehen. Die Eule aber schlief ein und der Zaunkönig schlüpfte aus. Seit der Zeit hassen die Vögel die Eule.


  • Literatur: Kristensen, Sagn II, 261. 46.

4. Aus Deutschland.


a) Aus Oldenburg.


Die Vögel wollten einen König haben und machten aus, wer am höchsten fliegen könne, solle König sein. Bei dem Wettfluge stieg der Storch am höchsten, so hoch, daß man ihn kaum noch sehen konnte, und schon glaubte er gewonnen zu haben, da schlüpfte der kleine Zaunkönig, der sich unter des Storches Flügeln verborgen gehalten, aus seinem Versteck hervor und flog noch höher als der Storch


»kikerikik.

wel is höger as ick!«


So war denn der Zaunkönig König der Vögel. Aber die Vögel wollten ihn nicht anerkennen und verfolgten ihn, daß er sich in ein Mauseloch verkriechen mußte, und stellten die Eule als Wache an das Mauseloch, damit er nicht wieder herauskomme. Aber die Eule schlief ein und der Zaunkönig schlüpfte hervor, stieß die Eule um und neddelte (neddje, nidje = stoßen) sie ordentlich durch, daß sie ganz plusterig wurde. Seitdem heißt der Zaunkönig Neddel- oder[174] Nettelkönig.3 Die Eule aber ward den anderen Vögeln verhaßt, weil sie nicht aufgepaßt hatte, und fliegt nun aus Scheu vor den übrigen Vögeln immer nur des Nachts aus (Saterland).

– Der Zaunkönig ruft:


Schier lier lumm,

wat is de Ule dumm,

se leggt un Ei as'n Trumm.


  • Literatur: Strackerjahn, Aberglaube und Sagen etc. II, 106 (1867).

b) Die Vögel wollten einen König haben und beschlossen denjenigen Vogel zum König zu wählen, der am höchsten fliegen würde. Als der Wettflug begann, setzte sich der Zaunkönig dem Adler auf den Schwanz, und als dieser nun am höchsten geflogen war, erhob er sich vom Schwänze desselben und flog noch eine Strecke höher. Doch die Vögel wollten einem so kleinen Vogel nicht huldigen und schwuren ihm, ergrimmt über den Betrug, den Tod. Da kroch der Zaunkönig in ein Mauseloch, und die Vögel stellten die Eule als Wache davor. Doch diese schlief ein und der Zaunkönig entschlüpfte in einen Zaun. Daher rührt der Name Zaunkönig und die Feindschaft der Vögel gegen die Eule, welche so schlecht Wache gehalten hatte.


  • Literatur: Schambach und Müller, Niedersächs. Sagen und Märchen S. 319 Nr. 29.

c) Die Vögel wurden auch einmal ehrgeizig und dachten auch: »Högger rup, Junge!« Sie machten also eine Wette, wer am höchsten fliegen könnte, und bestimmten, daß der Sieger in dieser Wette ihr König sein sollte. Da erhoben sich die Vögel alle mit ihren Flügeln von der Erde, und alsbald kribbelte und wibbelte es in der Luft von Vögeln, um die Köpfe der Menschen flogen die Enten, Hühner und Gänse, denn sie dachten auch: »Högger rup, Junge!« und hatten sich auch zum Fliegen aufgehoben. Aber selbst neben den Dächern und neben den Baumspitzen und viel., viel höher hinauf, soweit das Auge sah, war alles voll Vögel. Über allen schwebte die Hühnerwieke4, auf ihren Schwanz aber hatte sich der Zaunkönig gesetzt, der dachte erst recht: »Högger rup, högger rup!« und als die Hühnerwieke hoch oben in der Luft war, da flog er von ihrem Schwanze auf und erhob sich noch höher. Weil er nun so klein war, wollten ihn die Vögel nicht zu ihrem König; sie sperrten ihn in ein Mauseloch und stellten die Eule als Wache neben ihn. In dem Mauseloch brüstete sich der kleine Vogel noch und rief immerfort: »Ower de Heuhnerwieke! Ower de Heuhnerwieke!«

Die Eule aber war ein schlechter Wächter und nickte mit ihrem dicken Kopfe ein. Das benutzte der Zaunkönig sogleich, schlüpfte aus dem Loche hervor und fuhr in einen Zaun. Seitdem hat er den Spottnamen Zaunkönig erhalten. Nach einem frischen Regen da geh einmal so an einer nassen grünen Hecke vorbei, und wenn das Wasser dann in den Schlehdornen tropft, da kannst du den kleinen Vogel sich noch immer berühmen hören: »Ower de Heuhnerwieke! Ower de Heuhnerwieke!« Die Eule aber darf sich seit der Zeit vor den Vögeln nicht mehr sehen lassen und fliegt nur des Nachts aus. Dann fliegt sie vor die Häuser, wo ein Mensch sterben will; da setzt sie sich aufs Dach oder gegenüber und ruft: »Klewitt, klewitt!« Oder sie sagt: »Geh mit, geh mit!« Wenn sie das lange genug gerufen hat und es ist ein schöner Buchenwald in der Nähe, so verschwindet sie in den Buchen; sonst versteckt sie sich auf dem Kirchturme.

Die Hühnerwieke aber ist ein Dieb und stiehlt sich manchen Braten von der[175] Weide. Hast du nicht auch schon mitgerufen: »Wie-, Wie-Wittche!« wenn sie hinter dem Dorfe über den jungen Gänsen schwebte? Dann schlägt ihr das böse Gewissen wegen des Diebstahls, den sie im Sinne hat, und sie hebt sich hoch in die Luft auf wie damals, wo der Zaunkönig von ihrem Schwänze aufflog, und fliegt davon.


  • Literatur: Pröhle, Kinder- und Volksmärchen S. 210 Nr. 64 (Lpz. 1853).

d) Aus dem ehemaligen Fürstentum Kalenberg.5


De vogels keimen maidag tohope un wollen sik en könig wählen; wer am högsten fleegen könne, dei schöllet wesen. Do keimen tohope de adler un de baukfinke, uule un kraie, leerike un sparling, de kukuk un sin köster6, un saun ganzen lütjen vogel, dei harre keinen namen. Do flaugen se up von en feile, fräu an en dage, dat keiner seggen könne, ik herre wol noch neigen könt, averst et is nu abend eworen, un darum woll ik nich meer. Sau harren se alle tiet tau fleigen sau hoch, ans se man können; dat gaf'n gefluster af up den rume, dat de stof flaag, un in der luft, dat et susen dë. De lütjen vogels bleiwen bale trügge un können nich meer. Dei am högsten flaug dat was de adler, dai kam sau hoch, dat e herre der sunne de ogen uthacken könnt; averst ans he sach, dat hei de öpperste was, dachte, wat wut du höger neigen, du bist ja doch de könig. Mit der vile fung e an to sinken un de annern vogels reipen: du most use könig wesen, keiner is höger ekomen ans du. »Utgenommen ik!‹« reip de lütje vogel ohne namen, dei sik in den adler sine feddern verkropen harre, un nu, ans de adler mäue was, upsteg in de luft sau hoch, dat e Gott uppen himmelsstaule konne sitten seien. Do nam he sine flünke tohope un leit sik daalfallen, bet e an de ere kam. De vogels mossten nu zwarst seggen, dat he am högsten ekomen wärre, avers tom könjen wollen se ön nich hebben. Se wollen ön im gegendeile fangen un recht over ön spreken wegen siner ränke und listen. Do wort den lütjen vogel bange um sin lütjet harte un he krop vor angst in'n muselok. Do stellen se de uule vor dat lok taun wachen, un sëen ör, se schölle den schelm nich herut laten, so leif ör dat leben wörre. De uule stund un wake den ganzen namiddag un de kein oge tau. De annern vogels wörren mäue von den neigen un gingen mit wif un kinnern to bedde, ans et abend wort. De uule averst stund un wake. Mäue was se ok un se së bie sik: ein oge kanste wol tau daun, du wakst jo mit den annern noch, un de lütje deif sall er nich herutkreipen ut sinen loke. Sau de se dat eine oge tau un keif7 mit den annern up dat muselok. De lütje deif kam mit'n koppe herut kiken un woll wegwitschen, averst de uule trat davor un de gaudeif trok de kopp trügge. Do dë de uule dat eine oge weer up un make dat annere tau, un sau wolle se wesseln de ganze nacht. Averst ans se dat annere mal dat eine oge tau de, make se dat annere nich weer up, de lütje vogel keik ut sinen loke vor, sach sinen Wächter slapen, flaug up un davon. Ans de vogels den annern dach recht spreken wollen, was de schelm wege. Sit der tiet darf sik de uule nich meer bie dage seien laten, sons sint er de annern vogels hinner un wilt er an't fell, weil se den lütjen schelm hat wegwitschen laten; un ok de lütje schelm mag sik nich seien laten, weil öm bange is, dat se öm an en kragen gaat. Hei krupt8 nu in tünen un hagen herumme un de vogels nennt öne mit spit9 tuunkönjen.


  • Literatur: Firmenich, Germaniens Völkerstimmen 1, 186. Wieweit diese Fassung auch originale Züge besitzt, ist bei der Ähnlichkeit aller Varianten nicht ohne weiteres zu bestimmen; benutzt ist Grimm KHM Nr. 171 oder deren Quelle.

[176] e) Einst kamen die Vögel zusammen, um einen unter sich zum Könige zu wählen. Es schien allen am besten zu sein, wenn sie alle einen Flug in die Höhe machten, und wer hierbei am höchsten käme, solle gekrönt werden. Ein Zeichen wurde gegeben, und sie hoben sich in die Höhe. Doch bald kam einer nach dem andern wieder herunter. Der Adler allein blieb noch im Steigen. Zuletzt konnte er auch nicht mehr und ließ sich wieder herunter. Da sah er auf einmal ein Vögelchen, das flog noch höher, als er gekommen war. Aber daß es nichts als Betrug gewesen war und das Vögelchen dem Adler auf dem Schwänze gesessen und sich bis dahin ausgeruht hatte, das war den Vögeln klipp und klar. Sie setzten den Schelm in ein Mauseloch und stellten die Eule als Wächter davor, bis sie entschieden hätten, was mit ihm geschehen sollte. Doch die Eule schlief ein, und der Gefangene flüchtete und verkroch sich zwischen die Nesseln. Darum heißt er Nesselkönig. Als darnach die Vögel ihn abholen wollten, war er fort. Seit der Zeit schämt sich die Eule so, daß sie sich nie mehr am Tage sehen läßt; auch sagt man gewöhnlich, wenn man nicht findet, was man erhofft hatte: Da hiät 'ne ule siäten.


  • Literatur: Woeste, Volksüberlieferungen in der Grafschaft Mark S. 39; Wolf, Beiträge zur deutschen Mythol. 2, 438; Firmenich, German. Völkerst. 3, 189.

f) Die Vögel wollten mal einen König wählen, und es wurde beschlossen, daß derjenige es sein sollte, der am höchsten fliegen könnte. Da versteckte sich der Zaunkönig unter die Flügel des Reihers, und als dieser, der noch höher als der Storch geflogen war, ermüdet war, da flog der Zaunkönig unter den Flügeln hervor und noch über den Reiher hinaus und rief: »König bün ik! König bün ik!« Darüber waren aber die anderen Vögel sehr böse und setzten ihm arg zur der Zaunkönig aber flüchtete sich in ein Mauseloch, und aus dem schrie er immer: »König bün ik! König bün ik!« Da ärgerten sich die andern Vögel wieder und beschlossen, ihn auszuhungern; die Eule wurde als Wache vor das Loch gesetzt, weil sie so große Augen hat und bei Nacht wacht. Als es aber Mittag wurde, da schien die Sonne so hell, daß sie die Augen schloß und einschlief. Da entschlüpfte der Zaunkönig in einen nahen Zaun und rief wieder: »König bün ik! König bün ik!« Als die andern Vögel das erfuhren, verfolgten sie die Eule, wo sie am Tage sich sehen ließ. Die Eule aber wurde den Mäusen feind, die die bösen Löcher machen.


  • Literatur: Bartsch 1, 518 = Mecklenburg. Jahrbücher 5, 74 ff.

g) In den alten Zeiten da hatte jeder Klang noch Sinn und Bedeutung. Wenn der Hammer des Schmiedes ertönte, so rief er: »Smiet mi to! Smiet mi to!« Wenn der Hobel des Tischlers schnarrte, so sprach er: »Dor hast! Dor, dor hast!« Fing das Räderwerk der Mühle an zu klappern, so sprach es: »Help, Herr Gott! Help, Herr Gott!« Und war der Müller ein Betrüger und ließ die Mühle an, so sprach sie hochdeutsch und fragte erst langsam: »Wer ist da? Wer ist da?« dann antwortete sie schnell: »Der Müller! Der Müller!« und endlich ganz geschwind: »Stiehlt tapfer, stiehlt tapfer, vom Achtel drei Sechter.«

Zu dieser Zeit hatten auch die Vögel ihre eigene Sprache, die jedermann verstand; jetzt lautet es nur wie ein Zwitschern, Kreischen und Pfeifen, und bei einigen wie Musik ohne Worte. Es kam aber den Vögeln in den Sinn, sie wollten nicht länger ohne Herrn sein und einen unter sich zu ihrem König wählen. Nur einer von ihnen, der Kiebitz, war dagegen: frei hatte er gelebt und frei wollte er sterben, und angstvoll hin- und herfliegend rief er: »Wo bliew ick? Wo bliew ick?« Er zog sich zurück in einsame und unbesuchte Sümpfe und zeigte sich nicht wieder unter seinesgleichen.

[177] Die Vögel wollten sich nun über die Sache besprechen, und an einem schönen Maimorgen kamen sie alle aus Wäldern und Feldern zusammen, Adler und Buchfinke, Eule und Krähe, Lerche und Sperling, was soll ich sie alle nennen? Selbst der Kuckuck kam und der Wiedehopf, sein Küster, der so heißt, weil er sich immer ein paar Tage früher hören läßt. Auch ein ganz kleiner Vogel, der noch keinen Namen hatte, mischte sich unter die Schar. Das Huhn, das zufällig von der ganzen Sache nichts gehört hatte, verwunderte sich über die große Versammlung. »Wat, wat, wat is denn dar to don?« gackerte es, aber der Hahn beruhigte seine liebe Henne und sagte: »Luter riek Lud,« erzählte ihr auch, was sie vorhätten. Es ward aber beschlossen, daß der König sein sollte, der am höchsten fliegen könnte. Ein Laubfrosch, der im Gebüsche saß, rief, als er das hörte, warnend: »Natt, natt, natt! Natt, natt, natt!« weil er meinte, es würden deshalb viel Tränen vergossen werden. Die Krähe aber sagte: »Quark ok!« es sollte alles friedlich abgehen.

Es ward nun beschlossen, sie wollten gleich an diesem schönen Morgen aufsteigen, damit niemand hinterher sagen könnte: »Ich wäre wohl noch höher geflogen, aber der Abend kam, da konnte ich nicht mehr.« Auf ein gegebenes Zeichen erhob sich also die ganze Schar in die Lüfte. Der Staub stieg da von dem Felde auf, es war ein gewaltiges Sausen und Brausen und Fittichschlagen, und es sah aus, als wenn eine schwarze Wolke dahin zöge. Die kleinern Vögel aber blieben bald zurück, konnten nicht weiter und fielen wieder auf die Erde. Die größern hieltens länger aus, aber keiner konnte es dem Adler gleich tun, der stieg so hoch, daß er der Sonne hätte die Augen aushacken können. Und als er sah, daß die andern nicht zu ihm herauf konnten, so dachte er: »Was willst du noch höher fliegen, du bist doch der König,« und fing an sich wieder herabzulassen. Die Vögel unter ihm riefen ihm alle gleich zu: »Du mußt unser König sein, keiner ist höher geflogen als du.« »Ausgenommen ich!« schrie der kleine Kerl ohne Namen, der sich in den Brustfedern des Adlers verkrochen hatte. Und da er nicht müde war, so stieg er auf und stieg so hoch, daß er Gott auf seinem Stuhle konnte sitzen sehen. Als er aber so weit gekommen war, legte er seine Flügel zusammen, sank herab und rief unten mit feiner, durchdringender Stimme: »König bün ick! König bün ick!«

»Du unser König?« schrien die Vögel zornig, »durch Bänke und List hast du es dahingebracht.« Sie machten eine andere Bedingung, der sollte ihr König sein, der am tiefsten in die Erde fallen könnte. Wie klatschte da die Gans mit ihrer breiten Brust wieder auf das Land! Wie scharrte der Hahn schnell ein Loch! Die Ente kam am schlimmsten weg, sie sprang in einen Graben, verrenkte sich aber die Beine und watschelte fort zum nahen Teiche mit dem Ausruf: »Pracherwerk! Pracherwerk!« Der Kleine ohne Namen aber suchte ein Mäuseloch, schlüpfte hinab und rief mit seiner feinen Stimme hinaus: »König bün ick! König bün ick!«

»Du unser König?« riefen die Vögel noch zorniger, »meinst du, deine Listen sollten gelten?« Sie beschlossen, ihn in seinem Loche gefangen zu halten und auszuhungern. Die Eule ward als Wache davorgestellt: sie sollte den Schelm nicht herauslassen, so lieb ihr das Leben wäre. Als es aber Abend geworden war und die Vögel von der Anstrengung beim Fliegen große Müdigkeit empfanden, so gingen sie mit Weib und Kind zu Bett. Die Eule allein blieb bei dem Mäuseloch stehen und blickte mit ihren großen Augen unverwandt hinein. Indessen war sie auch müde geworden und dachte: »Ein Auge kannst du wohl zutun, du wachst ja noch mit dem andern, und der kleine Bösewicht soll nicht aus seinem Loch heraus.«[178] Also tat sie das eine Auge zu und schaute mit dem andern steif auf das Mauseloch. Der kleine Kerl guckte mit dem Kopfe heraus und wollte wegwitschen, aber die Eule trat gleich davor, und er zog den Kopf wieder zurück. Dann tat die Eule das eine Auge wieder auf und das andere wieder zu und wollte so die ganze Nacht abwechseln. Aber als sie das eine Auge wieder zumachte, vergaß sie das andere aufzutun. Und sobald die beiden Augen zu waren, schlief sie ein. Der Kleine merkte das bald und schlüpfte weg.

Von der Zeit an darf sich die Eule nicht mehr am Tage sehen lassen, sonst sind die andern Vögel hinter ihr her und zerzausen ihr das Fell. Sie fliegt nur zur Nachtzeit aus, haßt aber und verfolgt die Mäuse, weil sie solche böse Löcher machen. Auch der kleine Vogel läßt sich nicht gerne sehen, weil er fürchtet, es ginge ihm an den Kragen, wenn er erwischt würde. Er schlüpft in den Zäunen herum, und wenn er ganz sicher ist, ruft er wohl zuweilen: »König bün ick!« und deshalb nennen ihn die andern Vögel aus Spott Zaunköng.

Niemand aber war froher als die Lerche, daß sie dem Zaunkönig nicht zu gehorchen brauchte. Wenn sich die Sonne blicken läßt, steigt sie in die Lüfte und ruft: »Ach, wo is dat schön! schön is dat! schön! schön! ach, wo is dat schön!«


  • Literatur: Grimm, Kinder- und Hausmärchen Nr. 171 = Dähnhardt, Naturgeschichtl. Volksmärchen3 Nr. 1.

h) Eines Tages beschlossen alle Vögel einen Wettflug zu veranstalten und denjenigen zum König zu wählen, der am höchsten fliegen könnte. Der Wettflug ging vonstatten. So sehr sich aber auch alle anstrengten, möglichst hoch zu fliegen, der Storch10 besiegte doch alle anderen, und schon wollte die ganze Vogelwelt ihm als ihrem König huldigen, da schwang sich plötzlich der kleine Zaunkönig, der sich bis dahin unter den Schwanzfedern des Storches versteckt gehalten hatte, über den Storch in die Lüfte und rief: »König ick! König ick!«

Erbittert über diesen Betrug verurteilte die ganze Vogelwelt den Zaunkönig zum Tode; diesem aber gelang es, sich auf die Erde und in ein Mauseloch zu flüchten. Nun wurde der Vogel, der die größten Augen hat, nämlich die Eule, als Wächter vor das Mauseloch gestellt, um das Urteil an dem kleinen Missetäter zu vollstrecken.

[Die Eule schläft ein, der Zaunkönig entflieht durch Nesseln und Zäune hindurch.] Seit der Zeit führt er den Namen Zaunkönig oder Nesselkönig. Beide Vögel, der Zaunkönig und die Eule, wurden darauf von dem König auf ewig in die Acht erklärt.


  • Literatur: Haas, Rügensche Sagen und Märchen2 S. 153 Nr. 155.

Sehr wahrscheinlich, meint Haas a.a.O.S. 153, hat diese Geschichte Veranlassung gegeben zu dem Sprichwort: Doe het 'ne Uhl säten11, d.h. die Sache ist schon vorbei, du kommst zu spät, das glückt nicht. Ebenso sagt man sprichwörtlich von demjenigen, der vergeblich auf etwas wartet: He luert dorup, as de Uhl up 'n Nettelkönig.


i) Die Vögel wollten einmal einen König wählen, konnten sich aber lange über die Wahl nicht einigen. Da beschlossen sie ein Wettfliegen zu veranstalten; wer[179] am höchsten fliege, der solle König sein. Alle erhoben sich. Am höchsten flog aber der Storch. Schon glaubte er seines Sieges gewiß zu sein, da er alle Vögel unter sich erblickte, aber plötzlich schwebte über ihm ein kleiner Vogel, der sich unbemerkt unter seinen Flügeln verborgen und von ihm hatte hochtragen lassen. Der Storch konnte nicht mehr höher fliegen, doch der Kleine stieg noch eine Strecke empor, hatte somit gewonnen und die Königswürde erlangt.

Die Vögel aber wollten ihn nicht als König anerkennen, sondern verfolgten ihn wütend und wollten ihn töten. Schnell schlüpfte er in ein Mauseloch. Man stellte nun einen Wächter dabei, um den Zaunkönig – denn der war der Sieger gewesen – nicht entschlüpfen zu lassen. Den Wächterdienst mußte die Eule verrichten, weil sie die größten Augen hatte. Sie schlief aber bald ein, und der Zaunkönig entfloh. Zornig verfolgen seitdem die Vögel die Eule, um sie für ihre Nachlässigkeit zu bestrafen, und auch der Kleine muß sich in Hecken und Zäunen herumdrücken, weil er fast überall verfolgt wird. Daher hat er auch den Namen Zaunkönig erhalten. (Mündlich aus Zwilipp.)


  • Literatur: Asmus und Knoop, Sagen u. Erzählungen a.d. Kreise Kolberg-Köslin S. 70.

k) Als die Menschen sich einen König gewählt hatten, wollten ihnen die Vögel nicht nachstehen und beschlossen, sich ebenfalls einen Herrscher zu küren. Es ward eine große Ratsversammlung berufen, und man kam nach langem Hin- und Herreden überein, derjenige solle von allen unweigerlich als Vogelkönig anerkannt werden, der am höchsten fliegen könne.

An einem vorher festgesetzten Tage erschienen alle Vögel auf einer herrlichen Wiese, die mitten, im Walde lag. Ein Zeichen wurde gegeben, und lustig erhob sich die ganze Gesellschaft in die Lüfte; aber nicht lange währte es, so erlahmten einem nach dem andern die Kräfte. So gerne sie König geworden wären, sie mußten umkehren und die ersehnte Würde Besseren überlassen. Keiner tat es jedoch dem Adebor gleich. Weit, weit unter ihm befand sich der, der der Zweite nach ihm war.

So zog er, nachdem es offenbar geworden, daß er unbestritten der Sieger sei, stolze Kreise in der Luft und ließ sich dann ebenfalls nieder, da auch seine Kraft zu erlahmen begann. In diesem Augenblicke schlüpfte unter seinen Flügeln ein winziges Vögelchen heraus, so klein, daß es noch gar keinen Namen erhalten hatte, obgleich es an Klugheit alle andern Vögel übertraf, stieg in die Lüfte und schrie, so sehr es nur konnte:


»Ek ben Koenich!

Ek ben Koenich!«


Der Adebor wurde zornig, denn er durchschaute den Betrug und erkannte, daß ihm, ohne daß er's bemerkt hatte, das Tierchen auf der Wiese unter die Flügel gekro chen war. Aber was konnte all sein Zürnen helfen; was geschehen war, war geschehen. Den kleinen Schelm im Fliegen zu überholen, dazu reichten auch beim besten Willen des Adebor Kräfte nicht mehr aus. Er ließ sich darum zur Erde herab und rief mit dem übrigen gefiederten Heer den kleinsten Vogel als König aus. Kaum war dies geschehen, so machte er jedoch die Versammlung auf den Betrug aufmerksam und gab den Rat, den winzigen Herrscher umzubringen und dann zur neuen Königswahl zu schreiten.

Sobald der Vogelkönig auf dem Erdboden angelangt war, fiel deshalb alles über ihn her und suchte ihm das Leben zu nehmen. Der kleine König aber war flinker als alle seine Untertanen zusammengenommen. Hast du nicht gesehen? war er in ein Mauseloch geschlüpft und dort vor jeder Nachstellung sicher.

[180] Die Vögel wurmte es, daß der Schalk so seiner gerechten Strafe entgehen sollte, und sie stellten die Eule als Wächter bei dem Loche auf, damit sie das Vögelchen, wenn es entwischen wollte, sogleich packte und fresse. Die Eule gehorchte und versprach, genau Obacht zu geben. Aber wie es so zu gehen pflegt, das lange Stehen und Aufpassen macht müde. Ehe sie's sich versah, war sie eingeschlafen und als sie wieder erwachte, war von dem kleinen Gefangenen nichts mehr zu sehen.

Wie ärgerte sich die Eule da über sich selbst! Aber es sollte noch schlimmer kommen; denn kaum hatten die andern Vögel von ihrer Nachlässigkeit erfahren, so flogen sie heran, zerzausten ihr die Federn, verhöhnten und verspotteten sie dermaßen, daß sie in den dunkeln Wald fliegen und sich im schwarzen Dickicht verstecken mußte, um nur wieder Ruhe zu bekommen. Nachdem die Eule bestraft war, faßten die Vögel den Beschluß, ein jeder solle den König umbringen, wo er ihn auch fände.

Um nun dem Tode zu entgehen, ist der Vogelkönig gezwungen, sich in Hecken und Zäunen und niedrigem dichten Strauchwerk aufzuhalten, wo kein anderer Vogel leben kann. Und das hat ihm den Spottnamen Zaunkönig oder Nesselkönig eingetragen, den er auch noch führt bis auf diesen Tag. Ebenso wagt auch die Eule bis heute noch nicht, sich bei Tage unter den Vögeln sehen zu lassen, und geht deshalb immer nur des Nachts auf ihre Nahrung aus. (Mündlich aus Reckow, Kreis Lauenburg, und Kratzig, Kreis Fürstentum.)


  • Literatur: M. Jahn, Volkssagen aus Pommern und Rügen S. 477 Nr. 595 (1886).

l) Bei der Königswahl fliegt der Adler am höchsten, als er aber nicht mehr höher kann, erhebt sich von seinem Rücken der allerkleinste Vogel und ruft:


»Ziekzeriekziek! där König bin ick.«


Der Adler schlägt eine zweite Probe vor: »War van uns bein am diëpsten in de Are kömmt, sall König sind.« Der Adler plustert sich darauf ganz in den Sand, das kleine Vögelchen aber kriecht in ein Mauseloch. Nun soll die Eule wachen, sie schläft jedoch müde vom Wettflug ein, und der Kleine entwischt. Seit der Zeit heißt er »Tuunkönig, weil hä sich wie männiger eene as en Tuunschlieker erschleäken het,« und die Eule – »Schnobbeuule (Schlafeule), äwer där Oadler is van Rechten König in Ehren.« (Aus der Mittelmark.)


  • Literatur: Firmenich, Germaniens Völkerst. 3, 119.

m) Aus der Mark Brandenburg.


Die Vögel konnten nicht einig werden, wer ihr König sein sollte. Nach langem Streit kamen sie überein, daß der ihr König werde, welcher am höchsten fliegen könne. Die Vögel versammelten sich, den Wettstreit zu entscheiden, und als sie den Wettflug begannen, schlüpfte der Zaunkönig, von allen ungesehen, in die Federn des Storchs und versteckte sich. Alle steigen höher und höher, der eine ermüdet, der andere ermüdet und sinkt; nur der Adler und der Storch halten noch aus. Beide streiten lange um die Ehre miteinander, beide werden ebenfalls ermüdet: endlich sinkt der Storch. [Da verläßt der Zaunkönig sein Versteck und besiegt den Adler.] Aber die Vögel, entrüstet über den gespielten Betrug [wie er entdeckt wird, ist nicht erzählt], eilen sich seines Königtumes zu entledigen und ihn zu töten. Der Zaunkönig flieht, und versteckt sich in ein Mauseloch. Jetzt glauben die Vögel ihn gefangen, sobald er wieder zum Vorschein komme; und um seiner desto sicherer habhaft zu werden, soll eines ihrer Glieder den Versteck bewachen. Sie wählten die Eule, weil sie die größten Augen hat. Aber sie verschläft[181] ihren Posten, und der Gefangene entschlüpft. Seitdem mußten die Vögel den Zaunkönig zum König behalten, aber sie sind gegen ihn und die Eule so erbittert, daß jener sich fortwährend in Hecken und Dornen und Löchern verkriechen muß, um ihrer Bache zu entgehen, und diese nur des Nachts, wenn alle Vögel schlafen, aus ihrem Versteck sich hervorwagen darf.


  • Literatur: Mone's Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters 3 (1834), S. 312 = Nork, Mythologie S. 952.

n) [Der Zaunkönig hat sich beim Wettflug um die Königswürde unter dem Flügelgelenk des Adlers versteckt usw. Die Eule wird als Wächter vor das Mausloch gesetzt.] Die saß auch die ganze Nacht davor und schaute mit ihren großen Augen hinein, welche so feurig waren, daß es dem Zaunkönig ordentlich grausig wurde; als aber der Tag kam, ward sie von dem Licht geblendet und die Augen sanken ihr zu. Das erschaute sogleich der Zaunkönig und flog eilends davon, und sie haben ihn nimmermehr wieder gefangen. Die Eule hat aber das Bad austragen müssen, denn die Vögel können's ihr bis auf den heutigen Tag noch nicht vergessen, daß sie den gefangenen König hat entfliehen lassen, und darum hacken sie auf sie los mit ihren Schnäbeln, wo sie sich nur blicken läßt. (Mündlich aus Berlin.)


  • Literatur: Kuhn, Märkische Sagen und Märchen S. 293 f. (1843).

5. Westslawen, Wenden.


Einst beschlossen die Vögel, es solle derjenige von ihnen König sein, welcher am höchsten fliegen könnte. Deshalb stellten sie eines Tages ein Wettfliegen an. Es schien, als ob der Storch die Vögel besiegen werde. Er war nämlich so hoch geflogen, daß ihm kein Vogel hatte folgen können. Schon glaubte der Storch, er habe gewonnen, aber er sollte bald bitter enttäuscht werden. Der Zaunkönig hatte sich nämlich dem Storch auf den Schwanz gesetzt, ohne daß dieser etwas davon gemerkt hatte. Als nun der Storch nicht mehr höher fliegen konnte, verließ jener plötzlich seinen Zufluchtsort und flog mit frischen Kräften in die Höhe. Darauf schrie er: »Ich bin der höchste!«

Die Vögel wurden sehr böse, daß der kleine Vogel ihr König sein sollte. Deshalb sagten sie: »Der soll unser König sein, welcher den niedrigsten Ort einnehmen kann.« Der Zaunkönig schlüpfte flugs in ein Mauseloch und rief: »Ich bin der niedrigste!« So hatte er wieder den Sieg davongetragen. Die Vögel waren nun so böse auf ihn, daß sie beschlossen, sie wollten ihn aus dem Loch nicht mehr herauslassen. Deshalb stellten sie als Wächter die Eule auf, die dem Zaunkönig den Ausgang wehren sollte. Allein die Eule schlief zuletzt ein und der Zaunkönig schlüpfte aus dem Loche hervor. Fortan war er König. Von der Zeit an wandte sich der Haß der Vögel auf die Eule. (Aus Sylow.)


  • Literatur: Veckenstedt, Wendische Sagen etc. S. 424 Nr. 4.

6. Littauer.


Als die Vögel um die Wette geflogen waren, glaubten alle, daß der Adler am höchsten hinaufgezwungen hätte, er ließ sich als Letzter aus der Höhe herab. Aber siehe! Mit ihm kam auch der Zaunkönig angeschwirrt, in stolzer Haltung. Als kaum der Adler traurig gesagt hatte: Der hat alle, auch mich, im Fluge überholt, fielen sogleich alle Vögel über den Zaunkönig her und schrien, jeder in sei ner Sprache: Das ist nicht wahr! das kann nicht sein! Sie umschwärmten den Daumesdick und fragten immerzu, was er gemacht habe, wie er habe gewinnen können. Der bekam Angst vor den (über ihn) herfallenden Scharen und zog sich auf die[182] Seite zurück. Jene kamen immer näher, stießen ihn und traten ihm auch schon auf die Füße. Dieser, immer rückwärts rückend, wußte nicht wo er bleiben sollte. Er sah sich um, – auf der ganzen Wiese auch nicht ein Sträuchlein. Wohin springst jetzt? Auf dem Rückzuge fiel er unversehens in ein Mauseloch und wupps! kroch er plötzlich unter die Erde. Die Vögel sahen sich um, warteten auf sein Herauskommen, konnten's aber nicht erwarten. Da es zu lange dauerte, stellten sie die Eule, weil sie die größten Augen hatte, als Wächter ans Mauseloch. Die setzte sich hin, blinzelte und schlief ein, und Daumesdick entschlüpfte von keinem gesehen an ihr vorbei und versteckt sich noch heute im Gebüsch. Die Vögel kamen zeitweise, sahen der Eule Augen groß offen, wußten aber nicht, daß sie mit offenen Augen zu schlafen gewohnt ist, wie der Hase. Als sie es erst merkten, daß sie schlief, kamen sie in Scharen geflogen, um zu schelten wegen der Unachtsamkeit. Damals entkam sie, darf aber auch heute sich noch nicht am Tage sehen lassen, alle jagen sie dann wie auf Verabredung, weil sie als Wächter damals eingeschlafen ist. Aber des Zaunkönigs List ist noch immer nicht ans Tageslicht gekommen.


  • Literatur: Jurkschat S. 41 Nr. 11.

7. Kleinrussen.


Einstmals gab es bei den Vögeln keinen Kaiser, und da faßten sie den Beschluß: wer höher als alle andern fliegt, solle Kaiser werden. Der Falke flog höher als alle, aber ein kleines Vöglein hatte sich auf ihn gesetzt, und als er sieh höher befand als alle andern, flatterte es auf und flog noch höher; da jagte der Falke nach dem Vöglein, es versteckte sich aber in einen hohlen Baum. Der Falke flog aus, einen andern kleinen Vogel zu holen, welcher den Flüchtling herausscheuchen sollte aus dem Versteck, zum Wächter aber setzte er die Eule; in seiner Abwesenheit rief die Elster die Eule aus irgendeinem Grunde, und das Vögelchen entwischte; die Eule kehrte zurück und setzte nichtsahnend die Wache fort; es kam der Falke an, schickte den Vogel, den er mitgenommen, ins Astloch herein, der besah alles und meldete, daß nichts darin wäre. Da hackte der Falke der Eule die Augen aus: daher kann die Eule am Tage nichts sehen.


  • Literatur: W.N. Jastrebow: Materialy po ethnografii novoross. kraja S. 19.

8. Aus Rumänien.


a) Die Vögel wollen den zum König wählen, der am höchsten fliegen kann. Der Zaunkönig versteckt sich im Gefieder des Adlers und als dieser ermüdet, aber am höchsten von allen Vögeln ist, beginnt der Zaunkönig noch höher zu fliegen und wird so König. Viele Vögel aber beneiden ihn und suchen ihn zu töten. Deshalb lebt der Zaunkönig in dichtem Gebüsch und Dornen, wo er einigermaßen Ruhe hat. Von seiner Königswürde hat er aber – nichts.

b) Für den Betrug soll der Zaunkönig bestraft werden. Er verkriecht sich aber in eine Baumhöhlung, in die kein andrer Vogel, wegen seiner Größe hineinkann. Deshalb beschließen die Vögel, ihn durch Hunger zum Herauskommen zu zwingen. Jeden Tag bekommt ein bestimmter Vogel die Wache. Als nun der Uhu vor dem Eingange wachen sollte, schlief er ein, und alsbald war der Zaunkönig entflohen. Nun verfolgen die Vögel sowohl den Zaunkönig, der sich unter Baumwurzeln und in Dornsträuchern verbirgt, als auch den unachtsamen Wächter, den Uhu (oder Nachteule).

c) In der Bukovina erzählt man dieselbe Legende, und tritt hier der Adler für den Geier ein.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 1, 306–311.

[183] 9. In Ungarn erzählt man, die Nachtigall habe sich im Gefieder des Geiers versteckt, sei am höchsten geflogen und deshalb König geworden. Die Vögel freuten sich, daß ihr vorzüglichster Sänger König wurde; nur der Geier ärgerte sich und verfolgt bis heute die Nachtigall.


  • Literatur: Marianu, Ornitologia 1, 314.

Anhang.

Interessant ist die folgende Fassung aus Brasilien, die so wesentliche Übereinstimmungen mit den oben mitgeteilten europäischen Varianten zeigt, daß man sich die Abweichungen nicht anders als durch eine sehr freie Umformung der importierten Fassung wird erklären können. Die angedeutete Ätiologie bezieht sich darauf, daß die Eule am Tage bei hellem Licht schlecht sieht!


... Eine Cotia (Dasyprocta, sp. var.) hat sich in ein Loch geflüchtet. Der Jaguar bewachte das Loch eine ganze Weile lang, aber schließlich wurde er müde und hungrig, darum sagte er zu einer Eule: »O Eule! willst du dieses Loch für mich bewachen, während ich mir etwas Wasser hole?« Die Eule willigte ein. Da schaute die Cotia heraus und sah die beiden großen Augen, die sie anstarrten, warf eine Hand voll Sand in das Gesicht der Eule, was sie blind machte, und entkam, während sich die Eule die Augen rieb.


  • Literatur: Herbert Smith, Brazil, The Amazons and the Coast p. 549.

Noch weiter entfernt sich vom mutmaßlichen Original die folgende Erzählung, die mit der obigen immerhin noch einige gemeinsame Züge hat.


... Der Jaguar ließ eine Kröte das Loch der Höhle der Schildkröte bewachen. Als die Schildkröte sie erblickte, fragte sie sie, warum ihre Augen so rot und geschwollen seien und beredete sie, die Augen mit einer Pflanze einzureiben, wovon die Kröte blind wurde.


  • Literatur: Herbert Smith, Brazil p. 543.

Zum Schluß möge hier noch eine vermutlich aus Pommern stammende Erzählung Platz finden, deren Inhalt jedoch (Anspielungen auf die Konferenzzeit?) vielleicht ebensowenig volkstümlich ist, wie ihr Stil.


Die Konferenz unter den Vögeln.

Vom hohen Rat der Vögel war unter den Auspizien des königlichen Adlers dekretiert, daß künftig, wo es auf gemeinsamen Nießbrauch ankäme, von allen beteiligten Vögeln eines Reviers Konferenzen gehalten würden, damit durch Stimmenmehrheit eine Administration eingesetzt und instruiert werde, welche das Interesse jedes einzelnen gehörig wahrnehme.

Bei der nächsten vorkommenden Gelegenheit nun ward zu einem bestimmten Tage eine Konferenz angesetzt und publiziert. Es erschienen demnächst zur festgesetzten Zeit alle Vögel des Reviers: die Nachtigall, die Lerche, der Hänfling, die Grasmücke, die Eule usw. Zuletzt kamen in Scharen die Krähen und die Karaken.12 Auf den Einwand, daß von beiden bei einer gemeinsamen Beratung zu viele wären, erwiderten sie, ihre alten Privi legien gestatteten ihnen, scharenweise[184] aufzutreten. Leicht geschah es nun, daß eine Krähe den Vorsitz und somit den Vortrag hatte und ein Karak die Führung des Protokolls erhielt. Sowie nun eine Proposition gemacht ward, pflichteten ihr alle Krähen und Karaken unisono mit lautem Quak! Quak! Quak! Beifall. Wiewohl verletzt durch das herrische übertönende, einförmige Geschrei, versuchten doch anfangs mehrere Vögel, und unter diesen die Königin des Gesanges, die Nachtigall, die Lerche, der Hänfling und die Grasmücke Erörterungen und Einwendungen. Da sie aber nicht das volltönende Quak! Quak! hervorbringen konnten, welches von der Mehrzahl als alleinige Konferenzsprache anerkannt ward, so wurden sie wegen des Mangels an Harmonie von dieser Mehrzahl verspottet und mußten froh sein, als sich einige bereitwillige Krähen fanden, die der Gekränkten Vertretung übernehmen wollten, worauf letztere sofort schnell das Feld räumten. Ihrem Beispiele folgten bald alle übrigen Vögel; nur die Eule blieb mit den Krähen und Karaken zurück, indem sie voll Vertrauen auf ihre durchdringende Stimme und ansehnliche Größe, auf ihren gebogenen Schnabel und auf ihre scharfen Klauen beschloß, ritterlich den Streit auszufechten. Kaum aber hatte sie ihr einleitendes Kuwitt! Kuwitt! hervorgebracht und mit ihrem schauerlichen, volltönenden Uhuhu! angefangen, als die gesamte Schar der Krähen und Karaken auf sie losstürzte. Da sie nun mit großer Übermacht von allen Seiten angegriffen ward, sie auch, als am Tage, die Angreifenden nicht einmal gut sehen konnte: so vermochte sie sich, nachdem sie stark gerupft war, nur mit Mühe in einen hohlen Baum fliehend zu verbergen, und getraute sich späterhin nie wieder einer Konferenz beizuwohnen. Von dieser Begebenheit stammt die Redensart her: Er ist wie die Eule unter den Krähen. Auch wagen es seitdem nicht leicht andere Vögel zu erscheinen oder gar sich hören zu lassen, wo Krähen und Karaken konferieren und wo das mächtig gebietende Quak! Quak! vortönt. Seit der Zeit herrscht jedoch in den meisten stattfindenden Konferenzen der Krähen und Karaken, worin über Nutznießung verhandelt werden soll, eine so vollkommene Harmonie, daß es zum Sprichwort geworden ist: Eine Krähe hackt der andern die Augen nicht aus. Wenn etwa in einem Reviere ein Wild, ein Hase, ein wildes Schwein oder ein Hirsch, vom Geschosse des Jägers verwundet, sich verblutet hat und gefallen ist, beschließt gleich der ganze Schwärm unter lautem Quak! Quak! daß die Beute solange von den Krähen fürs gemeine Beste administriert werden soll, bis ein einstimmiges Quak! Quak! der Abziehenden bezeuge, daß nur noch Knochen und etliche Fetzen von Haut zurückbleiben. Oder wenn's je der achtbaren Versammlung kund wird, daß ein benachbartes Weizenland von aufgerichteten reifen Garben bedeckt ist, so sind Entschluß und Ausführung fast eins, hinzufliegen und so viele der besten Körner gemütlich zu verzehren, bis alle, völlig gesättigt, im harmonischen Chor triumphierend miteinander schreien: Quak! Quak! Quak!


  • Literatur: Bl. f. pomm. Volksk. VI, 78. Aus Sundine 1828 S. 265 f.

Fußnoten

1 Vgl. Natursagen 3, S. 94 f. 269 ff. 523. Kirchhoff, Wendunmuth 1, 63 vgl. 7, 146. – Eine euphemistischere Auffassung von dem Verhalten der Vögel zur Eule, als man ihr sonst begegnet, findet sich bei Waldis 2, 27 (vgl. Aesopas Halmii 106. 106 Kor. 330. 381. Für. 385). Hier tritt die Eule als die kluge Ratgeberin auf und seitdem


da fliegen jr all Vogel nach,

Thun sie mit hauffen umbringen,

Wölln sich all nahend zu jr dringen,

Auff das sie mögen etwas hörn

Vnd von der Ewlen weissheit lern.


2 Vgl. auch die Variante aus Gelderland, oben S. 170.


3 Er wird auch noch Kort-Jan, Kortjan-innen-Tun, Kortjan-innen-Tünken genannt.


4 Hühnerweihe.


5 Es umfaßte die Kreise Hannover, Linden, Springe, Hameln etc.


6 d.i. der Wiedehopf.


7 guckte.


8 kriecht.


9 Spott.


10 Daß der Storch an die Stelle des Adlers getreten ist, kann nicht wundernehmen, denn der Adler kommt auf Rügen fast gar nicht vor (Haas S. 154). Vgl. oben S. 170 die Variante Schulenburgs aus dem Spreewalde, unten S. 181 aus Brandenburg, mitgeteilt von Mone, und die zunächst folgenden.


11 Vgl. die Variante aus der Grafschaft Mark von Woeste, oben S. 177.


12 Saatkrähen, vgl. Grimm, Wörterbuch 5, 222.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 185.
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