I. Die Doppelnatur der Fledermaus.

[197] Schon mehrfach ist in dieser Sammlung naturdeutender Sagen von der Fledermaus, ihrem wunderlichen Aussehn und ihrer merkwürdigen Lehensweise die Rede gewesen.1 Wie ein Mittelding zwischen Vogel und Maus ist sie schon in frühen Zeiten dem Betrachter erschienen2, und als ein solch wundersames Tier steht sie auch im Vordergrund der folgenden Fabeln und Sagen.

In naiver Auffassung ist nichts natürlicher, als daß jene Doppelnatur, die sich im Äußern der Fledermaus so stark ausprägt, auch in ihrem innern Wesen, so vor allem im Benehmen andern Tieren gegenüber an den Tag tritt. In den Sagen nun zeigt sich dieser zwiespältige und zweideutige Charakter darin, daß die Fledermaus im Kriege der Vögel gegen die Vierfüßler es mit derjenigen. Partei hält, von der sie glaubt, daß sie die stärkere sei. Im Augenblick der Gefahr des Unterliegens verläßt sie daher treulos die Scharen der Vögel und geht zu den Feinden über.

Die äsopische Fabel (Halm 307) von der Fledermaus und der Katze dürfte auf die Fledermausfabeln in der Phädrus- und Romulustradition einen entscheidenden Einfluß gehabt haben.

Dort bittet die von der Katze ergriffene Fledermaus um ihr Leben. Auf die Erklärung der Katze, sie könne es ihr nicht schenken, denn sie führe[197] kraft ihrer Natur Krieg mit den Vögeln, erwiderte jene, sie sei ja kein Vogel, sondern eine Maus, und so wurde sie denn losgelassen. Als sie später einmal von einer andern Katze ergriffen wurde, bat sie abermals darum, nicht gefressen zu werden, und als jene bemerkte, sie sei die Widersacherin aller Mäuse, entgegnete sie, sie sei keine Maus, sondern ein Nachtvogel, und wurde abermals freigegeben.3

Die Doppelnatur der Fledermaus ist auch hier schon das eigentliche Thema, aber die Abweichungen der jüngeren Fabeln sind doch so große, daß wir für sie eine vermittelnde Fassung voraussetzen müssen. Das Kriegsmotiv ist jedoch in der äsopischen Fassung schon deutlich vorgebildet durch die Motivierung der Katze, ›sie führe Krieg mit den Vögeln‹.

Die lateinischen Fassungen beginnen mit dem unbekannten Nachdichter des Phaedrus, der die Fabel wie folgt erzählt:


Bellum gerebant Volucres cum Quadrupedibus, et modo vincentes iterum vincebantur. Vespertilio, dubios eventus timens, superiorem quem [quam] primo vidisset ad eam [aciem] se conferebat. In pacem cum redissent pristinam, utroque generi fraus decepta apparuit. Damna tus ergo tam pudendo crimine lucem refugiens atris se condidit tenebris noctis.4


Hier kommt eine Ätiologie noch nicht recht heraus, sie ist aber am Schluß doch bereits angedeutet. Im Romulus-Corpus dagegen wird mit aller Bestimmtheit ausgesprochen, warum eigentlich die Fledermaus federlos ist, das Licht scheut und nur des Nachts umherfliegt:


... Vespertilio vero sententia avium damnatur eo quod suos reliquerat, ut lucem fugiat semper, expoliatusque est plumis, ut noctibus volet nudus.5


Mit wenig Abweichungen im Gesamtverlauf der Handlung finden wir die Fabel mit der ständig gleichen Ätiologie bei all den mittelalterlichen Autoren, die den Romulus benutzten.6 Die Reihe der deutschen Dichter eröffnet Boner, der die Fabel im Edelstein unter Nr. 44 erzählt:


. . . . . . .

die vogel vuoren balde dar,

und machten bloz die vledermus

und stiezen sie vil schalklich uz.


Dar zuo wart ir ze buoz gegeben,

daz si des nachts sol ir leben

spisen, und ouch vliegen soll.


Steinhöwel bringt sie in der Übersetzung7 nach Romulus 3, 4 und Erasmus Alberus in erweiterter Gestalt8, wo Uhu, Eule und Käuzchen[198] zusammen mit der Fledermaus auf die Seite des Löwen übertreten und ebenso verurteilt werden, nur des Nachts auszufliegen. Bei Waldis schließt die Fabel mit den Versen:


Als sie [die Vögel] das Veldt erobert hetten,

Die Fledermauß in die Acht theten

Vnd hielten sie gar vntüchtig,

Das sie war worden Veldtflüchtig;

Ir lebenlang nicht kommen thar

Vnder ein auffricht Fendlin dar;

In den Steinritzen muß liegen,

Bei liechtem tag darff sie nicht fliegen,

Wie man noch auf heutigen tag

An Fledermeusen sehen mag.9


Im Froschmäuseler von Rollenhagen10 wird die Fledermaus ›zum Schelm gemacht‹ und Eyring11 illustriert mit der Fabel die Sentenz: »der arges thut, der hast das Liecht«.

Auffallend selten scheint die Geschichte von der Fledermaus in der lebenden Volksüberlieferung vorzukommen. Wir finden sie nur in einer litauischen Fassung (unten S. 202 f.) und in der folgenden aus Ostpreußen:


Die Vögel führten einst mit den vierfüßigen Tieren Krieg. Die Fledermaus, die jedenfalls der siegenden Partei angehören wollte, hielt sich immer zu derjenigen, die sie im Vorteile sah. Unter den Vögeln gab sie sich für einen Vogel aus, unter den vierfüßigen Tieren für eine Maus. Nachdem aber der Friede geschlossen war, wurde man des Betrugs inne. Von beiden Parteien verurteilt, scheut sie es seitdem, sich bei Tage sehen zu lassen, und das ist der Grund, weshalb sie erst in der Dunkelheit ausfliegt.


  • Literatur: Reusch, Sagen des preuß. Samlandes S. 40 f. (2. Aufl. 1863).

Fußnoten

1 Vgl. Bde. I–III, Register unter Fledermaus, bes. III, 266.


2 Zu den Vögeln rechnet sie Plinius, hist. natur. 10, 61: vespertilio sola volucrum lacte nutrit ubera admovens. Vgl. R. Köhler, Kl. Schriften 3, 519.


3 Nach der Übersetzung von Binder, Äsop. Fabeln2 Nr. 109.


4 Hervieux2 2, 144. Georg Thiele, Der Latein. Aesop S. 173 [Ph. sol. (= Ad.)], vgl. Einleitung S. XXVII f.


5 Thiele a.a.O.S. 174.


6 Vgl. Kurz zu Waldis 1, 34; Oesterley zu Romulus 3, 4; Neckam bei Hervieux 2, 788; Jacques de Vitry, The Exempla p. 67 und Anm. p. 197; Etienne de Bourbon ed. Lecoy de la Marche p. 250; Sheppey bei Hervieux 2, 771; Marie de France, Hervieux 2, 518 (dazu Warnke, Die Quellen S. 181); Lafontaine 2, 5 ed. Régnier. – Auch vom Greif wird gelegentlich dasselbe erzählt wie von der Fledermaus (vgl. Nicolaus Pergamenus ed. Graesse p. 231 f.). Er tritt im Kriege der Tiere als Friedensstifter auf, da er sowohl Vogel als vierfüßiges Tier ist und von beiden Parteien ohne Mißtrauen anerkannt wird.


7 Oesterley S. 145 f.


8 Ausgabe von W. Braune S. 146.


9 Kurz 1, 67.


10 Ausgabe Magdeburg 1618 Ppva.


11 Proverbiorum copia 1, 429 (Eißleben 1601), vgl. 2, 709.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 199.
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