VIII. ›Halbaus-Ganzaus‹.

[241] Ein weitverbreiteter Fuchsschwank erzählt, wie der schlaue Rotpelz es einzurichten weiß, um die Speisevorräte des Bären heimlich zu verzehren.1 Da die Handlung ursprünglich nur zwischen Bär und Fuchs spielt und keine Situation herbeiführt, die einer Ätiologie günstig ist, treffen wir diese sehr selten und auch nur in solchen Varianten an, die den Kreis der auftretenden Tiere erweitert haben. Eine estnische Variante (s. unten) nimmt den Wolf mit auf und bringt eine Feindschaftsätiologie, während die ebenfalls unten mitgeteilte kroatische Version den Hasen einführt und die Entstehung seines Stummelschwanzes zu erklären sucht. Willkürlich angehängt sind die Deutungen in beiden Fällen.


1. Aus Estland.


Der Bär, der Wolf und der Fuchs, die früher noch miteinander befreundet waren, kauften sich zu Ostern jeder eine Bütte Butter. Eines Sonntags kommt der Fuchs zum Wolf und bittet ihn um ein Paar Stiefel, er gehe zur Taufe. Während der Wolf seine neuen Stiefel aus dem anderen Zimmer holen geht, springt der Fuchs zur Butterbütte und ißt davon. Dann springt er wieder schnell zurück. Als der Fuchs die Taufe gefeiert hat, geht er wieder die Stiefel abgeben. Der Wolf schläft. Der Fuchs ißt die Hälfte der Butter auf und ruft: »Du, Willem, schläfst, während die Heuschrecken deine Butter verzehren. Der Wolf fragt, wie das Kind getauft wurde.« »Wenig!« war des Fuchses Antwort. – An einem zweiten Sonntag will der Fuchs wieder zur Taufe. Der Wolf gibt seine Stiefel nicht mehr. Der Fuchs bittet den Bär. Der Bär holt die Stiefel und der Fuchs ißt unterdessen die Hälfte der Butter auf. Am anderen Tage holt er die Stiefel zurück. Der Bär stellt sie[241] wieder fort. Der Fuchs ißt alle Butter auf. Der Bär fragt, wie das Kind getauft wurde. »Leer,« antwortet der Fuchs. Der Bär will seinen Gast mit der Butter traktieren, findet die Bütte leer und beschuldigt den Fuchs im Aufessen. Der Fuchs glaubt nicht, sieht selbst nach und sammelt noch einige Butterreste auf. Der Fuchs sagt: »Wer in der Sonne liegend zuerst schwitzen wird, der hat die Butter aufgegessen.« Während sie hinausgehen, um sich in die Sonne zu stellen, bestreicht der Fuchs den Bär Ton hinten mit den Butterresten. Nach einer halben Stunde springt der Fuchs auf und ruft: »Alter Päts (Bär) hat seine und des Wolfes Butter verzehrt, er glänzt hinten von Schweiß.« Der Wolf, welcher auch dabei war, sprang auf den Bär los und biß ihn so schmerzhaft, daß er laut aufschrie. – Seit der Zeit hassen sich der Bär und der Wolf.

Einst trafen sie sich in einem großen Walde, wo mehrere Faden Holz herumlagen. Der Bär hat dem Wolf alle 50 Faden Holz nachgeworfen, während der Wolf schon viele Werst weit gelaufen war.


  • Literatur: Aus dem hdschr. Nachlaß von Hurt.

2. Kroatische Variante.


Ysegrim, der Wolf, Reineke, der Fuchs und Lampe, der Hase vereinbarten mit einem Bauer, ihm ein Stück Feld urbar zu machen, wofür er sich verpflichtete, ihnen ein Topf Honig zu geben. Der Bauer gab ihnen den Honig und die drei Genossen nahmen das Werk sofort in Angriff. Ysegrim setzte fest, keiner von ihnen dürfe von dem Honig essen, bevor die bestimmte Strecke ausgerodet sei. Reineke bekam indessen gar bald die schwere Arbeit satt und fing an nachzusinnen, auf welche Art und Weise er zum Honig gelangen könnte. Auf einmal ließ er den Ruf »ckci, ckci!« ertönen. Ysegrim schaut ihn verwundert an und fragt: »Was fehlt dir denn, lieber Meister, daß du so unruhig bist?« – »Ach,« antwortete Reineke, »man lädt mich ein, eine Gevatterschaft zu übernehmen.« – »So geh, sei aber bald wieder da,« versetzte der Wolf. Reineke schlich sich von den zweien unbemerkt zu dem Topf mit Honig hin und aß wohl ein Dritteil davon weg. Nachdem er seinen Hunger vor der Hand gestillt hatte, kehrte er zu seinen Genossen zurück, und sie fragten ihn, wie sein Täufling heiße, und er antwortete: »Anfangsstück.« Und so arbeiteten sie rüstig weiter, bis Reineke wieder hungrig und müde wurde und wiederum jenen Laut »ckci, ckci« ausstieß. Wiederum fragt Ysegrim, was Reineke fehle, und der Meister erwiderte: »Man ruft mich wiederum eine Gevatterschaft zu übernehmen.« – »So geh, sei aber bald wieder da,« sagte Ysegrim. – Reineke schlich sich wieder zum Topf hin, putzte den Honig bis zur Hälfte weg und kehrte zu den Genossen zurück. »Wie heißt dein Täufling?« fragte ihn der Wolf, und Reineke entgegnete: »Mittelstück.« – Bald fühlte sich Reineke wieder bei Appetit, ging wiederum Honig essen und sagte, als er zurückkam, sein Täufling heiße »Endstück.« Ysegrim und Lampe wurden indessen auch hungrig und müde, doch gönnten sie sich, trotz aller Erschöpfung, keine Ruhe, bevor sie die Arbeit zustande gebracht. Dann brachen sie gemeinsam auf, um Honig zu essen, fanden aber den Topf leer. Zornig rief Ysegrim aus: »Wahrhaftig, Reineke, du mußt mit dem Honig aufgeräumt haben!« – »Bei Leibe nein,« beteuerte Reineke seine Unschuld, »hab den Honig gar nicht gesehen. Es kann nicht anders sein, du, Lampe, hast ihn aufgegessen!« – »Sei doch gescheit,« wehrte sich Lampe, »ich hab mich ja nicht von der Stelle gerührt, weiß ja gar nicht, wie der Honig ausgeschaut.« – »Und doch behaupte ich, daß du ihn gemaust hast.« – »Bei meiner Seligkeit, nein, doch weißt du was? Wir legen uns schlafen, und wem der Honig aus dem Leibe rinnen[242] wird, der hat ihn wohl gegessen.« – »Einverstanden,« versetzte Ysegrim. »Weißt du was, Lampe, geh jetzt ins Kleefeld und stille deinen Hunger, du aber, Reineke, schleiche dich ins Dorf und schaue dich um, ob du dir etwas Eßbares beibiegen kannst, ich will indessen so schlecht und recht es geht, den knurrenden Magen bekämpfen.« – Doch Reineke meinte, auch er wolle sich gedulden, nur müsse Lampe vor Sonnenaufgang auf den Hügel kommen, wo sie von der Sonne abgewandt liegen werden. Lampe war indessen schon vor Mitternacht zur Stelle und so lagen die drei bis zum Morgengrauen. Da fing Reineken an der Honig aus dem Leibe zu rinnen und sachte, damit es Ysegrim nicht merke, schlich er zu dem Hasen hin, entleerte sich dort von der drückenden Bürde und schlich ebenso leise zu Ysegrim zurück, den er mit den Worten aufweckte: »Auf, auf, Ohm, aus Lampe rinnt der Honig heraus!« – Lampe hörte, wie Reineke den Ysegrim aufweckte und rannte schleunigst den Berg hinab. Ysegrim dachte nun wirklich, Lampe habe den Honig aufgegessen und jagte ihm nach, um ihn einzufangen und gebührend zu züchtigen. Blindlings lief Lampe durch Dorn und Strauch, über Stock und Stein, bis ihn Ysegrim, eben als Lampe durch einen Zaun durchschlüpfte, beim Schwänze erwischte und ihm denselben abriß. Seit der Zeit hat Gevatter Lampe nur mehr einen Stummelschwanz und heißt kurzweg Stummel. Reineke log auch nachdem wie vordem und wird immer lügen, solange die Welt besteht.


  • Literatur: Krauß, Sagen und Märchen 1, 39 Nr. 11, aus d. Samml. von Matija Valjavec Kračmanov, Narodne pripoviedke etc. 8. 281 f. (Varaždin 1858), vgl. Afanasjev3 I, 18.

Fußnoten

1 Vgl. Krohn S. 74 f. Vgl. auch unten S. 246 und 248, oben S. 34. Kallas, Achtzig Märchen Nr. 72 (unten S. 248 f.). Schreck, Finn. Märchen S. 185. Čudinskij, Russkija nar. skazki Nr. 12. Jefimenko, Materialy 2, 233. Wossidlo, Aus dem Lande Fr. Reuters S. 157. Wisser, Wat Grotmoder verteilt 2, 34. Volkskunde 2, 110 (vlämisch). Gittée et Lemoine, Contes pop. da pays Wallon p. 159 (1891). Harou, Folklore de Godarville p. 128. Natursagen 3, 339 Nr. 26. Sbornik v čest' Potanina S. 38 f. Mordovskij Sbornik S. 255 ff. Dragomanov Nr. 36. Preindlsberger-Mrazović S. 51. Kristensen, Danske Dyrefabler S. 37.


Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 243.
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