VII. Äsopische Natursagen.

[272] Unter den äsopischen Fabeln finden sich mehrere, denen ebenso wie der Fabel von den Bienen der Charakter der Natursagen eigen ist. Sie sind offenbar aus dem Volksmund geschöpft und ein gutes Zeugnis für antike Naturbeobachtung.


1. Die Esel schickten einst wegen ihres unaufhörlichen Lasttragens und Angestrengtseins eine Gesandtschaft an Zeus, um bei ihm Erlösung von ihren Mühseligkeiten zu erbitten. Er aber, um ihnen darzutun, daß dies unmöglich sei, erteilte den Bescheid, sie würden von ihren Leiden erlöst werden, wenn sie [solange] harnten, bis es einen Fluß gäbe. Sie nahmen den Spruch für Ernst auf, und von jenem Tage bis auf den heutigen stellen sich die Esel [überall], wo sie Urin von anderen [Eseln] erblicken, hin und harnen ebenfalls.


  • Literatur: Äsop, Fabeln übs. von Binder Nr. 112 = Halm, Nr. 319. Vgl. Natursagen I, 222 f. III, 178.

2. Die Ameise war vor alten Zeiten ein Mensch, der den Ackerbau als Beruf erwählt hatte, sich aber nicht mit dem durch eigene Arbeit Erworbenen begnügte, sondern auch noch seinen Nachbarn ihre Feldfrüchte entwendete. Da ergrimmte Zeus über solche Habgier und verwandelte ihn in das Tierchen, das jetzt Ameise[272] genannt wird. Die Gestalt war nun zwar gewechselt, allein die innere Neigung hatte [damit] keine Änderung erlitten: denn bis auf den heutigen Tag wandelt die Ameise auf den Saatfeldern herum, liest die Früchte fremden Fleißes zusammen und speichert sie in ihren Vorratskammern auf.


  • Literatur: Äsop, Fabeln übs. von Binder Nr. 108 = Halm, Nr. 294. Vgl. auch Wagner, Carmina Graeca medii aevi S. 299 f.

Die Fabel lebt noch, heute fort in folgender Überlieferung:


Aus Thrazien.


Die Ameise war einmal ein Mensch und hatte auch eigene Besitzungen. Aber da er die Arbeit nicht liebte, bebaute er seine Güter nicht, sondern stahl, was die anderen für die Armen übrigließen, wenn sie ihre Früchte sammelten. Und Gott verfluchte sie darum, und sie wurde zur Ameise und hat noch immer die Gewohnheit zu handeln wie früher, denn der Diebstahl klebte ihr an.


  • Literatur: Politis Nr. 356.

3. Die Haubenlerche bat Äsop nach Aristophanes, Vögel v. 471–75, den ersten aller Vögel genannt, der vor der Erde geboren sei, und erzählt, daß dieser, als sein Vater starb und bis zum fünften Tage unbegraben blieb, ihm ein Grab in seinem Kopfe grub, weil er sonst keins finden konnte.

Hierzu stellt sich, folgende indische Parallele:


Dem König der Inder wurde ein Sohn geboren. Das Kind hatte ältere Brüder, die, als sie erwachsen waren, sehr ungerecht und gottlos waren. Sie verachteten ihren Bruder, weil er der jüngste war, und spotteten über ihren Vater und ihre Mutter, die ihnen nichts galten, weil sie alt und grau waren. So konnten der Knabe und seine alten Eltern zuletzt nicht länger mit den bösen Menschen leben und alle drei flohen aus dem Hause. Im Laufe der beschwerlichen Reise, die sie unternahmen, unterlagen die alten Leute den Anstrengungen und starben, und der Knabe zeigte ihnen große Achtung, da er sie in sich begrub, nachdem er sich den Kopf mit dem Schwert abgeschlagen hatte. Da verwandelte die allsehende Sonne, in Bewunderung dieser frommen Tat, den Knaben in einen herrlich anzusehenden Vogel, der ein langes Leben hat. Auch wuchs auf seinem Kopfe ein Schopf als Erinnerungszeichen an das, was er auf seiner Flucht getan.


  • Literatur: Indian Antiquary 6, 345 = Crooke, Popular Rel. and Folkl. 2, 249 = North Indian Notes and Queries 3, 178.

4. Eine Fledermaus, ein Dornbusch und ein Tauchervogel hatten Kameradschaft gemacht und beschlossen Handelsgeschäfte zu treiben. Zu dem Ende borgte die Fledermaus Geld und legte es zum gemeinschaftlichen Gebrauche ein; der Dornbusch kam mit einem Gewande und der Tauchervogel, als der dritte, mit Geld. So segelten sie ab. Als nun infolge eines heftigen Sturmes das Fahrzeug scheiterte, verloren sie alles, sie selber aber retteten sich auf das feste Land. Von der Zeit an sitzt der Taucher immer am Gestade [und wartet], ob wohl das Meer irgendwo das Geld auswerfe; die Fledermaus wird aus Furcht vor den Darleihern bei Tage niemals sichtbar, sondern geht nur nachts auf Nahrung aus, und der Dornbusch hält die Vorübergehenden am Kleide fest um zu erspähen, ob er etwa das ihm Gehörige finde.


  • Literatur: Äsop, Fabeln übs. von Binder Nr. 42 – Halm Nr. 306 b. In einer Var. bei Halm 306 bringt der Taucher das Fahrzeug, das er nun fortwährend sucht, indem er taucht.

[273] Hieran schließt sich eine literarische und eine mündliche Überlieferung, a) Aus Kirchhof, Wendunmut IV, 160. 161 (Ausg. Österley Bd. 3, S. 158):


In eine gesellschafft gleichs gewins und verlusts schwuren ihr drey zusammen, ihre kauffmannschafft zu treiben zu waßer und zu land. Der erste aber handelt fürnemlich für sich selbst und seine gemeiner zu schiff und auff dem waßer, segelt mit einem schiff, das etliche hundert läßt eingeladen, dahin; kam unversehens eine große fortun und sturm auff das meer, daß neben andern diß schiff auch must verterben und untergehen, also, daß welcher kurtz hievor der reichst, ietzt nun am unseligsten lebte und auß hefftiger gefaßter ungedult wünscht, kein mensch mehr zu sein; darumb er wart von gott gestrafft und zur schwalben verwandelt, von derwegen er noch immerdar in gestalt der schwalben über und auff dem waßer mit großer sorgfeltigkeit fleugt und fladdert, fleißig achtgebend, ob er noch etwas von ihren verlornen und versenkten gutem möcht ersehen und sie wider langte. Diß war seine straffe für sein mißbieten und murren wider gott.

Der ander in genennter gemeinschafft bette sich mit großen geschulden verhafftet, mit auff pension nemmen merklicher summen, darzu seinen glauben für mancherley und nit geringe kauffmans güter versprochen, daß ihm unmüglich, auff gesetzte termin und zahlzeit es abzustatten. Darumb, von wegen tieffer und schwerer bekümmernus der geltschulden und anders halben, auch daß er sich mehr denn glaublich beschamet, ward er zu einer fledermauß, schewet sich vor menniglich, befürchtend, seine glaubiger weren vorhanden; auß denen ursachen leßet sie sich des tags nicht sehen und fleugt nur des nachts.


  • Literatur: Vgl. dazu die Nachweise bei Oesterley Bd. 5, S. 115.

b) Aus England.


Der Kormoran handelte einst mit Wolle. Dornstrauch und Fledermaus beteiligten sich daran und befrachteten ein großes Schiff mit Wolle. Das ging unter und sie verloren alles. Seit diesem Unglück hält sich die Fledermaus bis Mitternacht versteckt, um ihren Gläubigern auszuweichen, der Kormoran taucht immer ins Wasser um das Schiff zu entdecken, und der Dornstrauch hält jedes vorbeigehende Schaf an, um seinen Verlust an Wolle wieder wett zu machen.


  • Literatur: Dyer, The Folklore of Plants p. 305.

5. Warum die Schwalbe bei den Menschen wohnt, diese Frage beschäftigt des öftern die Phantasie des Sagenerzählers. (Vgl. Natursagen I – III Reg.) Auch Äsop (Halm Nr. 417. 417 b) beantwortet sie in einer Fabel, die der Natursage zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Schwalbe warnt die übrigen Vögel vor dem Hanfsamen und nochmals, als der Hanf aufgeht; daraus würden die Fangnetze gestrickt. Die Vögel verachten den Rat. Da schied die Schwalbe von ihnen und zog sich in die Häuser der Menschen zurück um dort sicherer zu leben.


  • Literatur: Vgl. Hervieux, S. 128. 256. 292. 340. Oesterley, zu Kirchhof, Wendunmut 7, 114. Hertel, Tantrākhyāyika 2, S. 138 f. (Erzählung III, XI) mit Anm. 1, S. 139. Benfey 1, S. 249.

Für die mündliche Überlieferung liegt folgender Beleg vor:


Aus Schweden.


In der Zeit, als die Tiere noch redeten, versammelten sich alle Vögel, damit sie sich alle die Kräuter der Erde ansähen. Am Grase angelangt, waren alle, mit[274] Ausnahme der Schwalbe, zufrieden. Jene aber konnte den Lein nicht ertragen, weil die Netze und Schlingen daraus gemacht werden. Die Bachstelze verteidigte unter dem Beifall der anderen Vögel den Lein, die Schwalbe aber sprach:


»dă flyr jag under menniskant tak

och aldrig trampar jorden med min fot!«


[ich flüchte mich dann unter das Dach der Menschen und werde nimmer die Erde mit meinem Fuße betreten].


  • Literatur: Cavallius II, XXIII.

6. In einer Variante hierzu (Halm Nr. 105. 106) warnt die Eule vor dem Vogelleim. Danach erzählt Kirchhof, Wendunmut 1, 85 (Ausg. Osterley 1, S. 110):


Vor Zeiten kamen alle vögel zů der eulen (als sie noch bißweilen ins feld spatzierte), freundschafft und bündtnuß mit ir zů machen, bahten darumb und begerten, daß sie umb mehrer bekrefftigung derselbigen, vorthin nit mehr in den thürnen oder alten gebeuwen, sondern bey ihnen im wald auff den lustigen grünen beumen nisten solte; zeigten ir darzů eine liebliche glatte junge eichen, und daß die zů irer wohnung aller bequembst wer vermeinende. Sie aber antwortet, daß ihr solchs nit zů thůn, sondern wolle in einen andern und nützlichem rath mittheilen, und sagt, daß sie vor solchen beumen sich vorsehen, und ihrer selbst gute sorg haben solten, in betrachtung, daß darauff mit gewohnlicher listigkeit die leimruten, der vögel todt, verborgen legen. Solchen der eulen getrewen rath verachteten die vögel, wie sie denn von natur leichtfertig seyn, flogen mit gantzen scharen der eulen zů trutz auff die eichen, die mehre ziehmlich groß mit hüpschen esten und ausgebreitet gewachsen war, sprüngen, sungen, spielten und geileten mit einander. Unter das trůg dieser eichbaum wispeln, deß warden die vögler gewar, richteten darmit ire leimrůten zů, besteckten disen baum und fiengen der vögel eine große menge. Allererst und zů spat wurden die armen, was gůten rath ihnen die eul gegeben, gewahr. Darumb noch heutigs tags, wo sies ersehen, weißheit zů lernen, ir nachfolgen und gleich als die ehrerbietigen umb sie herfligen, sitzen, hupffen und sich vor ir bucken...


  • Literatur: Über die lit. Verbreitung siehe Oesterley Bd. 5, S. 37.

7. Warum die Schnecke ihr Haus tragen muß. Als Zeus seine Hochzeit feierte, lud er alle Tiere zu Gaste. Die Schildkröte allein kam zu spät. Als er sie daher am folgenden Tage nach dem Grunde ihres Ausbleibens befragte, erwiderte sie: Das eigene Haus ist das beste Haus. Da ward er ergrimmt über sie und sprach das Urteil, daß sie ihr Haus stets mit sich herumtragen solle.


  • Literatur: Äsop, übs. von Binder Nr. 105 (gekürzt). Halm Nr. 154.
    In einer Variante erbittet die Schnecke, als Jupiter die Gaben unter die Tiere verteilt, um die Gunst, ihr eigenes Haus tragen zu dürfen, daraus niemand sie vertreiben könne. Sie will lieber diese Last tragen, als sich unter böse Nachbarn wagen. Vgl. Kurz zu Burkhard Waldis 2, 97.

An die erste Fassung erinnert folgende Sage der Fang.


Der Elefant, der König der Tiere, schickte eines Tages seine Boten zu allen Tieren, sie sollten sich sogleich bei ihm versammeln, wenn einer nicht käme, würde sofort der Krieg über ihn verhängt werden. Die Tiere schickten sich sogleich an, zu gehorchen. Ein jedes machte ein Bündel, bereitete Vorräte, nahm Sack, Patronentasche, Fetisch und Gewehr und machte sich auf den Weg. Bald waren sie alle beim Elefanten, die einen etwas früher, die andern etwas später. Der Elefant rief[275] jedem beim Namen, ehe er die Beratung anfing, und jeder antwortete: »Ich bin hier.« Nein, nicht jeder, denn als der Elefant rief: »Schnecke,« antwortete niemand. Dreimal wurde gefragt, sie war nicht da. Die Beratung begann ohne sie. Schon war alles geordnet, und die Tiere waren beim Aufbruch, als einige zu rufen begannen: »Da ist die Schnecke, da ist sie!« Das arme Tier kam ganz beschämt und zitternd heran, es fürchtete den Zorn des Elefanten sehr; selbst wenn es gewollt hätte, hätte es nicht die Kraft gehabt, mit ihm zu kämpfen. »Woher kommst du?« rief der Elefant. »Aus meinem Dorf!« »Und warum kommst du so spät? Hast du meine Botschaft nicht bekommen?« »Ich habe sie wohl bekommen, Vater Elefant, und habe mich auch sogleich auf den Weg gemacht, aber der Weg ist so weit, und du hast mir nur ein Bein zum Laufen gegeben, oft sind die Zweige mir in die Augen gekommen, daß ich nicht mehr sehen konnte und dadurch sehr aufgehalten wurde, dann fürchte ich auch die Kälte und vom Regen bekomme ich Fieber. Um nun gesund hier anzukommen, habe ich mich entschlossen, umzukehren und mein Haus mitzunehmen, darum komme ich so spät«. Vater Elefant lachte lange und herzlich über die Verteidigungsrede der Schnecke, dann sagte er: »Gut hast du geredet, Schnecke, gut hast du geredet, ich werde dir nun die Augen vorne an die Hörner setzen, daß dich die Zweige nicht mehr stören, denn du kannst dann nach Belieben deine Augen vorstrecken oder einziehen, aber um dich zu strafen, daß du bei der Versammlung gefehlt hast, die ich einberufen habe, wirst du in Zukunft dein Haus auf dem Rücken tragen. Geh, die Beratung ist zu Ende.« Und seit der Zeit hat die Schnecke die Augen an den beweglichen Hörnern und trägt ihr Haus mit sich. Und die Strafe wird wohl nicht so schlimm sein, denn nun braucht sie sich ja kein Haus selber zu bauen.


  • Literatur: Bull. de la Soc. Neuch. de Géogr. XVI, 175.

8. Käfer und Adler. Nach Äsop (Halm Nr. 7, Phaedrus 1, 28) fällt der Adler, der die Kleinheit des Scarabaeus mißachtet hat, dessen Bache zum Opfer, indem dieser ihm zweimal die Eier aus dem Neste wälzt. Die dritte Brut legt der Adler in den Schoß des Zeus mit der Bitte, ihm seinen Schutz zu gewähren. Aber der Käfer sammelte einen Kotballen und legte ihn dem Gott in den Schoß. Zeus will ihn abschütteln, dabei fallen die Eier heraus und zerbrechen. Als Zeus von dem Käfer erfährt, daß er sich habe rächen wollen, gibt er ihm recht, rät ihm jedoch, sich mit dem Adler auszusöhnen. Allein jener ist nicht dazu zu bewegen. Daher verlegt der Gott die Brut der Adler in eine andere Zeit, in welcher die Skarabäen noch nicht zum Vorschein kommen.


  • Literatur: Über die lit. Verbreitung des Stoffes s. Kurz, Anm. zum Esopus von Burkh. Waldis II, 26. Österley zu Steinhöwels Äsop S. 244. (»Darvon ist ensprungen, daz die adler nit iunge habent, ouch nit ayer legent zuo den zyten, so die hurnussel synt.«)

Die Geschichte stellt sich zu Volkssagen wie die in Bd. III, 143 mitgeteilte Sage von dem Raben und der Ameise. Der Rabe fürchtet, daß ihm die Ameise seine Eier aus dem Neste trage, und legt sie daher im März, wenn die Ameisen noch in ihrem Hügel stecken.

Quelle:
Dähnhardt-Natursagen-4, S. 272-276.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gedichte. Ausgabe 1892

Gedichte. Ausgabe 1892

Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.

200 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon