[149] 34. Der klingende Baum.

Es war einmal ein Königssohn, der nach dem Tode seines Vaters die Regierung führte. Durch seine Heirat kam er mit seiner Mutter in Feindschaft, weil er sich nicht diejenige genommen hatte, welche ihr gefiel. Nicht lange nach der Hochzeit mußte der König in den Krieg ziehen, welcher drei Jahre dauerte. Seine Frau hatte unterdessen zwei schöne Knaben geboren. Die Mutter des Königs wollte sich nun an ihr rächen und schrieb an den König, es sei eine Mißgeburt geboren worden; aber von wem, das berichtete sie nicht. Der König schrieb zurück, die Mutter solle in den Hungerturm, die Mißgeburt in's Wasser geworfen werden. Die Gemahlin des Königs wurde wirklich in den Hungerturm gesperrt; die zwei Knaben legte man in eine Schachtel und setzte sie in's Wasser. Die Königin betete zu Gott, und dieser schickte ihr täglich einen Engel mit Nahrung. In der Nähe des Schlosses war der Ziergarten, und der Gärtner, welcher eben Wasser holte, fand die Schachtel. Er öffnete sie und sah die zwei Knaben darin. Voll Freude lief er zu seinem Weibe und sprach: »Jetzt hat uns der liebe Gott ein paar Knaben geschenkt, welche wir gerade brauchen.« Die Kinder wuchsen heran und lernten die Gärtnerei.

Der König war mittlerweile heimgekehrt, und da ihm die Königin nicht entgegen kam, fragte er sogleich, wo seine Gemahlin sei. Die Mutter eröffnete ihm nun, daß er ja selbst befohlen habe, sie in den Hungerturm zu sperren, weil sie[149] eine Mißgeburt geboren habe. Der König glaubte seiner Mutter, und dieser Glaube wurde noch mehr bestärkt, als sie ihm sagte, der eine Knabe habe einen Ochsenkopf, der andere einen Pferdekopf gehabt. Von der Zeit an aber hatte der König keine Ruhe mehr. Als er eines Abends beim Hungerturme vorüberging, sah er ganz oben ein Licht. Er ging zum Turmwächter und ließ sich die Schlüssel geben. Als er an die Thür des Gefängnisses kam, wo er das Licht erblickte, guckte er durch's Schlüsselloch hinein und sah seine Frau und einen Engel neben ihr stehen. Er öffnete die Thür und der Engel verschwand. Der König fiel seiner Gemahlin um den Hals und bat sie um Verzeihung. Sie mußte ihm nun sagen, ob es wahr sei, daß sie eine Mißgeburt geboren habe oder nicht. Da sie es verneinte, ließ er sie wieder in das Schloß bringen und die böse Mutter mit vier Pferden zerreißen. Es wurde nun überall den zwei Knaben nachgeforscht, aber vergebens. Der Gärtner war unterdessen gestorben, und weil die zwei Söhne den Garten in einem so guten Zustande erhielten, so setzte der König sie als Gärtner ein. Dafür wollten die zwei Brüder dem Könige eine große Freude machen und ihm den klingenden Baum, den redenden Vogel und das goldene Wasser in seinen Garten bringen. Nach diesen drei Dingen hatten schon viele getrachtet, aber keiner hatte sie bekommen. Der älteste Bruder machte sich auf den Weg und kam zu einem Einsiedler. Den fragte er, ob er von den drei Dingen nichts wisse, und wie er sie wohl bekommen könnte. Der Einsiedler sagte: »Mein liebes Kind! Es sind schon viele Hunderte zu mir gekommen und haben mich ebenso gefragt, wie du; aber keiner ist noch zurückgekehrt, weil keiner dem Vogel gefolgt hat.« Der Gärtner bat den Einsiedler, er möge ihm nur den Weg zeigen und versprach ihm, daß er dem Vogel folgen wolle. »Auf diesem Wege«, sagte der Einsiedler, »gehst du fort und da wirst du schon den Baum klingen hören.« Richtig, als er drei[150] Tage gegangen war, hörte der Gärtner den Baum klingen. Bevor er zu dem Baume kam, mußte er durch eine große Menge Steine gehen, welche die Gestalt von Menschen hatten. Dann hörte er eine Stimme, die rief: »Guten Morgen, junger Mann, was willst du da?« Er sah sich um und bemerkte den redenden Vogel auf dem klingenden Baume. »Dich will ich«, sagte der Gärtner, »den klingenden Baum und das goldene Wasser.« Der Vogel sprach: »Brich dir einen Ast ab und nimm mich sammt dem Körbchen herunter vom Baume; dann gehe bis zu jenem Felsen, dort liegt ein Schlüssel, welchen du nimmst und die Thür im Felsen aufschließest. Mit dem Gefäße, welches du im Felsen findest, schöpfest du dir des goldenen Wassers ein. Wenn du dann aus dem Felsen herausgehst, so darfst du dich aber nicht umsehen, sondern mußt gradaus gehen.« Der Gärtner ging, als er aber aus dem Felsen heraus war, kamen ihm die menschenähnlichen Steine nach und schrieen: »Bruder nimm mich mit.« Wie er den Lärm hörte, sah er sich um und ward auf der Stelle in Stein verwandelt.

Der zweite Bruder wartete unterdes mit Schmerzen auf ihn, und als er nicht kam, machte auch er sich auf den Weg. Er kam ebenfalls zu dem Einsiedler, welchen er fragte, ob er den Weg nicht wisse zu dem klingenden Baume und ob sein Bruder nicht hier gewesen sei. »O ja«, sprach der Einsiedler, »aber er wird dem Vogel nicht gefolgt haben, und deswegen ist er nicht mehr zurückgekehrt.« »Welchen Weg muß ich gehn«, fragte er weiter, »daß ich zu dem klingenden Baum komme?« Der Einsiedler zeigte ihm den Weg und sagte ihm dasselbe, was er seinem Bruder gesagt hatte. Nach drei Tagen hörte er schon den Baum klingen und kam zu den Steinen. Als er die Steine sah, dachte er, es seien Menschen und berührte sie; aber es waren doch nur Steine. Der Vogel wünschte ihm einen guten Morgen und fragte ihn, was er wolle. »Dich will ich«, sagte er »den klingenden Baum und[151] das goldene Wasser.« Er mußte nun dasselbe thun, wie sein Bruder. Als er aus dem Felsen heraus trat, kamen ihm die Steine nach und machten einen fürchterlichen Lärm und schrieen: »Bruder, nimm mich mit.« Er aber ging immer fort und kümmerte sich nicht um den Lärm, obgleich er immer stärker wurde. Dann ward ihm aber so ängstlich, daß er zur Erde fiel. Er erholte sich und aufstehend sah er, daß viele Hunderte, welche er erlöst hatte, um ihm herum standen. Sein Bruder und er gingen nun mit dem Aste, dem Vogel und dem goldenen Wasser nach Hause. Dort sprach der Vogel: »Jetzt setzet ihr den Ast in die Erde, grabet neben dem Aste ein Grübchen und stellet das Gefäß mit Wasser hinein; mich aber hängt mit dem Körbchen an den Ast und ihr begebt euch zur Ruhe. Bis morgen früh wird schon alles in Ordnung sein.« – Als die Brüder in der Frühe erwachten, hörten sie schon den Baum klingen und das goldene Wasser floß über einen hohen Felsen herab. Der König, welcher das klingen hörte, fragte, was das sei; aber niemand konnte es ihm sagen. Da ging er endlich selbst in den Garten hinunter und staunte nicht wenig, als er den Baum, das Wasser und den Vogel sah. Viele Könige kamen und bewunderten die Schönheit. Als sie sich aber laut über die Schönheit aussprachen, sagte der Vogel: »Aber Eines ist nicht schön.« »Und was ist das Eine?« fragten sie. Der Vogel sprach: »daß der König seine Söhne Gärtner sein läßt.« »Wie ist das zu verstehen?« fragte der König. Der Vogel, welcher alles wußte, was in der Welt vorging, erzählte ihm nun das Vergangene. Der König, die Königin und alle Anwesenden hatten darüber eine große Freude, daß die zwei Söhne wieder gefunden waren.[152]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 149-153.
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