[259] 54. Drei Prinzessinnen erlöst.

Einst regierte in einem großen Reiche ein König, welcher drei Töchter hatte, die er sehr liebte. Eines Tages gingen sie spazieren und kamen nicht mehr zurück. Der König war darüber außer sich und sandte Boten aus, um seine drei Töchter zu suchen; aber vergebens. Die Boten kehrten zurück, ohne die geringste Spur aufgefunden zu haben. Nun entschloß sich der König, demjenigen, der die Verlorenen bringe, eine Tochter und das Königreich zu geben. Dieß wurde in der Stadt laut verkündet. Da boten sich zwei Schneidergesellen an, die Verlorenen zu suchen. Der alte König war damit zufrieden und gab denselben eine Summe Geldes, mit welcher sie ihre Entdeckungsreise antraten. Am ersten Abend kehrten sie in einem Gasthause ein, welches an der Landstraße lag.

Ein ausgedienter Soldat, Namens Hans, hatte auch von der Bekanntmachung des Königs gehört und sich bereit erklärt, die Prinzessinnen aufzusuchen. Der König gab ihm ebenfalls Geld auf die Reise. Hans schlug denselben Weg ein, auf dem die zwei Schneider fortgegangen waren und kam auch in dasselbe Gasthaus. Er ließ sich ein Glas Wein geben und war ganz in Gedanken versunken, als ihn die Schneider fragten, warum er so tiefsinnig sei, und suchten ihn aufzuheitern. Hans sagte ihnen, er sei ausgezogen, die verlorenen Prinzessinnen aufzusuchen.[259]

Die Schneider freuten sich, einen Gesellschafter gefunden zu haben; sie erzählten ihm auch, sie haben dieselbe Absicht, und luden ihn ein, mit ihnen zu reisen. Erst spät am Abend gaben sie sich zur Ruhe. Am andern Morgen reisten sie weiter und zwar schlug jeder einen andern Weg ein. Sie verabredeten sich, am Abende wieder an einem bestimmten Orte zusammenzutreffen. All ihr Suchen war vergebens; sie kamen an dem bestimmten Orte zusammen und suchten sich wieder eine Herberge, in welcher sie übernachteten. So ging's auch die folgenden zwei Tage. Am dritten Tage kam Hans zu einer kleinen, sehr schlechten Holzhütte, welche ein altes Mütterchen bewohnte und die mitten im Walde stand.

Er ging hinein und bat um frisches Wasser, damit er seinen Durst löschen könne. Die Alte gab ihm das Verlangte und fragte ihn, woher er komme und wohin er zu reisen gedenke.

Hans erzählte ihr, daß er von der Residenz des Königs komme und ausgezogen sei, um die Königstöchter, die verschwunden seien, zu suchen. Die Alte sagte: »Wenn du mir dein Geld gibst, so will ich dir den Ort offenbaren.«

Hans ließ sich dieses nicht zweimal sagen und gab der Alten seine Barschaft. Diese führte ihn zu einem Brunnen in den Wald und bezeichnete ihm denselben als den Ort, an welchem die Prinzessinnen verborgen wären. Jedoch warnte ihn die Alte vor den zwei Schneidern, die Böses im Sinne hätten, und machte ihn besonders darauf aufmerksam, wenn er in den Brunnen hinabgestiegen und die Töchter erlöst hätte, so solle er zuerst heraufsteigen, und die Erlösten erst nach ihm. – Vor Freude außer sich kehrte er zu seinen Kameraden zurück und erzählte ihnen, was er erfahren hatte. Sie beschlossen, am folgenden Tage mit einem langen Seile, an welchem sie Hans hinablassen wollten, zu dem bekannten Brunnen hinzugehen.[260]

Tags darauf gingen sie wirklich mit einem sehr langen Seile zu dem verhängnisvollen Brunnen und ließen den Hans hinab; zugleich aber verabredeten sie sich, denselben nicht wieder heraufzuziehen, damit sie als Retter der Verlorenen anerkannt würden. Hans langte in der Tiefe des Brunnens glücklich an und irrte ziemlich lange in verschiedenen dunklen und schauderhaften Gängen umher, bis er endlich in einen sehr langen Gang kam, der in einen großen Saal führte. Dort öffnete er die mittlere Saalthür und wollte eintreten, aber wie erschrak er, als er dicht vor dem Eingange einen Drachen bemerkte, der ihn zu verschlingen drohte. Der Saal war auf das prachtvollste ausgeschmückt und im Hintergrunde saß auf einem Throne die älteste Prinzessin. Als Hans diese bemerkte, zog er schnell seinen Säbel und begann mit dem Drachen einen für ihn sehr gefährlichen Kampf. Endlich aber gelang es ihm, das Unthier zu erlegen. Auf diese Weise hatte er die Prinzessin erlöst; aber noch zwei blieben ihm zu erlösen übrig. Nun öffnete er eine zweite große Thür, welche in einen noch größeren und schöneren Saal führte, welcher aber von einem Drachen, der sieben Köpfe hatte, bewacht wurde. Im Hintergrunde saß die zweite Prinzessin. Hans säumte nicht lange, sondern begann den Kampf mit dem Drachen, welcher viel gefährlicher als der erste war. Nach zweistündigem Kampfe blieb Hans der Sieger. Nun war auch die zweite Prinzessin erlöst und nur die jüngste war noch übrig.

Die zwei Erlösten blieben in ihrem Saale und Hans schickte sich an, nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, sein Werk zu vollenden. Er öffnete eine dritte Thür des Saales und kam in einen langen schmalen Gang, welcher in einen prachtvollen großen Garten führte. Nach langem Umherirren entdeckte er ein kleines, aber überaus, schönes Schloß, welches von einem Drachen, der neun Köpfe hatte, bewacht wurde. Dieser bevorstehende Kampf mit dem Drachen schien noch[261] schrecklicher zu werden, da dieser sogar Feuer spie. Jedoch Hans verlor den Muth nicht und fing wie ein Rasender zu kämpfen an. Beinahe wäre es um ihn geschehen gewesen, wenn das Unthier nicht in eine sehr tiefe steile Grube gefallen wäre. Als Hans dieses bemerkte, schleppte er so viele Steine herbei, als er nur konnte und warf dieselben auf den Drachen hinunter, welcher bald darauf verendete. Die Prinzessin war außer sich vor Freude und steckte ihm, als einen geringen Beweis ihrer Dankbarkeit ihren Ring an seinen Finger, worauf sie sich dann zu den zwei früher erlösten Prinzessinnen begaben. Von dort aus traten sie ihren Rückweg nach der Öffnung des Brunnens an, wo sie das Tageslicht wieder erblickten.

Ganz entzückt über die glückliche Erlösung, vergaß Hans die Worte der Alten und ließ die drei Erlösten zuerst hinaufziehen. Aber wie erschrak er, als diese oben angelangt waren und die schändlichen Schneider das Seil nicht mehr hinabließen, um auch ihn hinaufzuziehen. Die Prinzessinnen aber mußten den Schneidern schwören, sie für die Retter auszugeben, dann traten sie ihre Rückreise an. Als sie in der Hauptstadt angekommen waren, geschah ein großer Zusammenlauf und alles war über die Zurückkunft der Prinzessinnen erfreut. Der König gab jedem Schneider eine Tochter und ein Drittel des Reiches. Am dritten Tage sollte die Hochzeit gefeiert werden.

Unser Hans, der unten im Brunnen geblieben war, wußte nicht, was er anfangen sollte. Matt und müde legte er sich in einem Saale nieder und schlief bis zum andern Morgen. Dann ging er in dieser unterirdischen Welt umher und gelangte endlich in einen großen Wald, dann auf Berge und endlich auf sehr hohe Felsen. Auf diesen erblickte er das Nest eines Adlers, ging zu demselben hin und fütterte die jungen Adler mit Fleisch und Brot. Nach einiger Zeit kam der alte Adler und sprach zu ihm: »Ich will dich auf die[262] obere Welt bringen, aber du mußt dich auf unserer Reise immer mit Fleisch sättigen.« Hans ging mit Freuden den Vorschlag ein. Er setzte sich auf den Adler und dieser flog mit ihm in die Lüfte. So langte Hans glücklich oben an. Der Adler war aber ein König und die Jungen waren seine Kinder, die auf diese Weise ebenfalls erlöst worden waren. Hans bedankte sich bei demselben und der König wieder bei Hansen. Jeder trat die Reise in seine Heimat an. Als Hans in die Stadt kam, war alles in größter Bewegung. Er fragte nach der Ursache dessen und erfuhr, daß die Hochzeit der Prinzessinnen mit ihren Rettern gefeiert werden sollte. Hans verkleidete sich, ging in die Burg und gab sich für einen Sänger aus. Er wurde freundlich aufgenommen und sogar bei der Tafel mit einem Becher Wein beehrt, welchen ihm die jüngste Prinzessin reichte. Nachdem Hans denselben ausgetrunken hatte, warf er den Ring, welchen er von der jüngsten Königstochter erhalten hatte in den Becher und gab diesen wieder zurück.

Als die Königstochter den Ring im Becher erblickte, erschrak sie und wurde totenbleich. Der alte König, der dieses sah, fragte nach der Ursache und erfuhr, daß Hans der Retter sei und nicht die Schneider. Darum erhielt jener die jüngste Tochter und das ganze Königreich. Die zwei Schneider aber wurden in mit Nägeln ausgeschlagenen Fässern von einem Berge hinabgerollt, so daß sie elend zu Grunde gehen mußten. Die Hochzeit wurde mit großer Pracht gefeiert und nach derselben ging er wieder in den Wald, um das alte Weib, welches eine Hexe war, aufzusuchen. Hans hatte nämlich erfahren, daß die drei Prinzessinnen durch deren Gewalt in diesen Brunnen gebannt worden waren. Als er die Alte erblickte, ließ er sie festnehmen; in demselben Augenblicke kamen von allen Seiten die verschiedensten Thiere, große und kleine.

Als Hans dieses sah, hieb er mit seinem Säbel in dieselben ein und plötzlich verwandelten sich die Thiere in schöne[263] Herren und Frauen, welche ebenfalls von der alten Hexe verzaubert worden waren und auf diese Weise von Hans erlöst wurden. Die Erlösten waren aber meistens Prinzen und Prinzessinnen, und sie beschenkten den Hans reichlich. Hans ließ nun die Hexe hinrichten und lebte mit seiner jungen Frau lange Jahre glücklich und zufrieden.[264]

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 259-265.
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