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Das weiße Steinkanu

[30] Vor vielen, vielen Jahren lebte am Michigansee ein wunderschönes Mädchen, das mit einem tapferen, jagdtüchtigen jungen Mann verlobt war. Der Tag ihrer Hochzeit war auch bereits festgesetzt worden; als aber dieser endlich herankam, starb die hübsche Braut plötzlich. Das raubte denn dem Bräutigam alle Ruhe und alle Lebenslust. Stundenlang saß er unter dem Totengerüst, auf das die alten Frauen ihren Leichnam zur Verwesung hingelegt hatten, und nahm weder Speise noch Trank zu sich. Seine Kameraden kamen häufig zu ihm und sagten, er sollte doch klüger sein und seine Gedanken lieber auf die Jagd oder den Krieg lenken, als seine jungen Tage so mit unnützem Trauern zu vergeuden. Aber sein Herz war tot für solche Beschäftigungen, und unwillig schleuderte er Keule, Pfeil und Bogen von sich, da sie ihm keinen Ersatz für das Verlorene zu gewähren vermochten.

Nun hatte er einst von alten Leuten gehört, daß es einen geheimen Pfad gäbe, der zum Land der Seelen führe. Diesen gedachte er nun zu verfolgen. Er bereitete sich also vor und marschierte südwärts, was der Tradition nach die rechte Richtung war. Für eine Weile begegnete ihm weiter nichts Außergewöhnliches; Berge, Täler und Bäume sahen geradeso aus wie bei ihm und die Tiere und die Vögel ebenfalls.[31]

Als er seinen Wigwam verlassen hatte, lag rundum alles in Schnee und Eis, welch winterliche Zeichen sich jedoch allmählich verloren; der Schnee schmolz durch die Strahlen der erstarkenden Sonne, die Bäume bekamen nach und nach grüne Blätter, und ohne daß er wußte, wie es eigentlich zuging, stand rings um ihn her die ganze Natur in der anmutigsten Frühlingspracht. Die Blumen erglänzten in ungeahntem Farbenschmuck, und die Vögel erfüllten die Luft mit den herrlichsten Liedern. Unser Wanderer war also auf dem rechten Weg.

Bald entdeckte er auch einen geebneten Fußpfad, der ihn durch ein allerliebstes Wäldchen auf eine Anhöhe führte, auf der er eine sorgfältig gebaute Hütte wahrnahm. Ein alter Mann mit schneeweißem Haar und eingesunkenen Augen, aus denen aber doch noch das Feuer der Jugend zu lodern schien, kam ihm freundlich entgegen und hieß ihn willkommen. Um seine Schultern hing ein weiter Mantel aus den feinsten Tierfellen, und in seiner Hand führte er einen silberglänzenden Stab.

Der junge Mann nahte sich dem Alten ehrfurchtsvoll und brachte in ehrerbietigster Weise sein Anliegen vor.

»Oh«, sagte der Greis, »ich kenne deinen Wunsch bereits; ich habe dich schon lange erwartet und war eben ausgegangen, um nach dir zu sehen. Diejenige, die du suchst, hat sich vorgestern bei mir ausgeruht und neue Kräfte zu ihrer Reise ins Land der Seelen gesammelt, und das mußt du denn auch tun.«[32]

Darauf setzten sie sich zusammen vor die Tür des Wigwams, und der Alte fuhr fort: »Sieh – dort, wo sich die große blaue Ebene bis ins Unendliche ausdehnt, dort ist das Paradies, ihre Heimat. Hier stehst du an der Grenze; mein Haus bildet die Eingangspforte. Deinen Körper aber kannst du nicht mit hinnehmen, auch deinen Hund und deine Waffen nicht; ich werde dir daher dies alles bis zu deiner Rückkehr treulich aufbewahren.«

Darauf zog sich der Greis in seine Wohnung zurück, und der junge Mann marschierte rüstig weiter. Sein Gang war so leicht, als ob er plötzlich Flügel bekommen hätte, und je weiter er ging, desto heller glänzte alles um ihn. Die Tiere gingen so traulich an ihm vorbei, und die Vögel flogen so nahe an ihn heran, daß es ihm vorkam, als sähen sie ihn gar nicht. Weder Berg noch Baum nötigte ihn zu einem Umweg; er ging gerade mittendurch, denn es waren ja auch nur die Geister der Bäume und der Berge, die sich ihm entgegenstellten.

Als er so eine halbe Tagesreise hinter sich hatte, kam er an das Ufer eines breiten Sees, in dessen Mitte ein wunderschönes Eiland lag. Er setzte sich in ein weißes Steinkanu, von dem ihm der Alte vorher beim Abschied einige Worte nachgerufen hatte, und ergriff die Ruder, um hinüberzufahren. Beim Herumdrehen sah er jedoch auf einmal seine Geliebte in einem anderen Kanu neben sich. Die Wogen des Sees gingen immer höher und höher, vermochten aber nicht über den weißen Rand der Schifflein zu schlagen. Viele andere[33] Seelen begegneten ihnen auch noch, und einige davon wurden von den schäumenden Wellen verschlungen. Nur die Kanus der kleinen Kinder blieben von diesen Stürmen vollständig verschont.

Auch unser Paar überstand glücklich alle diese Gefahren und betrat freudig das himmlische Eiland, wo es keine Stürme und keinen Regen mehr gab; wo keiner fror, keiner Hunger litt und keiner über einen Todesfall zu klagen brauchte. Dort sah man keine Gräber; auch hörte man von keinem Krieg. Auf die Tiere wurde nicht Jagd gemacht, denn die nahrhafte Luft des Paradieses sättigte alle vollkommen.

Gern wäre der junge Krieger hiergeblieben, aber der Meister des Lebens rief ihm plötzlich zu: »Geh zurück in das Land, aus dem du gekommen bist, da du deine Pflichten dort noch nicht erfüllt hast. Höre dann auf die Lehren, die dir mein Türhüter geben wird, wenn er dir deinen Körper zurückerstattet; und wenn du danach handelst, dann wirst du auch späterhin den Geist wiedersehen, den du jetzt zurücklassen mußt; er wird dann noch so jung, schön und glücklich sein wie an dem Tag, als ich ihn zu mir rief!«

Als diese Rede des Großen Geistes verhallt war – erwachte der rote Jüngling. Seine schöne Reise in das Land der Seelen war nur ein glücklicher Traum gewesen, während er in Wirklichkeit mit Hunger, Kälte und bitteren Tränen zu kämpfen hatte.

Quelle:
Knortz, Karl: Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas. München: Verlag Lothar Borowsky, 1979, S. 30-34.
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