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Die sechs Falken
oder der gebrochene Flügel

[207] Sechs junge Falken, von denen nur Midschidschiquona, der älteste, etwas fliegen konnte, hatte der plötzliche Tod ihrer Eltern unversorgt und nahrungslos gelassen. Lange hatten sie auf deren Rückkehr vergeblich gehofft, und die jüngeren hatten sich schon mit dem Gedanken des Hungertodes vertraut gemacht, als sich Midschidschiquona entschloß, die anderen, so gut er eben vermochte, mit Futter zu versehen. Eine Zeitlang ging dies auch recht nett, bis endlich auch er ausblieb.

Nun fühlten sich die anderen erst recht unglücklich, denn der Winter war vor der Tür, und ihre Flügel waren[207] noch zu schwach, um sie in eine wärmere Gegend zu tragen. Doch faßten einige Mut und flogen aus, ihren verunglückten Bruder zu suchen.

Bald fanden sie ihn auch; er hatte sich im Kampf mit einem anderen Raubvogel den rechten Flügel gebrochen. »Brüder«, stöhnte er, »mir ist's schlecht ergangen; aber kümmert euch nicht weiter um mich, und laßt euch nicht durch mich abhalten, der rauhen Zeit zu entfliehen.«

»Nein, nein!« schrien sie alle. »Wir verlassen dich nicht, sondern bleiben hier, um deine Leiden zu teilen und für dich zu sorgen, wie du ehemals für uns sorgtest. Wenn dich der Winter tötet, mag er uns auch töten; doch solange du lebst, bleiben wir bei dir.«

Darauf trugen sie den Kranken in einen hohlen Baum, und drei blieben ständig zu seiner Pflege und Wartung um ihn herum, während die anderen zwei ausflogen und Futter suchten.

Midschidschiquona genas bald und gab seinen Brüdern allerlei erprobte Lehren hinsichtlich der Jagd, was diese befähigte, den ganzen Winter hindurch den Hunger fernzuhalten.

Der Frühling erschien, und die Jagd wurde ergiebiger; doch Pipidschiwisäns, der jüngste Falke, der gerade nicht der klügste und stärkste war, brachte nie etwas nach Hause, trotzdem er täglich am längsten weg war. Da fragte ihn einst Midschidschiquona nach der Ursache seines ständigen Unglücks.

»Es ist weder meine Schwachheit noch meine kleine Gestalt daran schuld«, erwiderte er, »denn ich töte[208] stets so viele Enten und sonstige Vögel wie ein anderer; aber wenn ich mit ihnen heimfliegen will, so stürzt jedesmal eine mächtige Kokokoho1 auf mich los und nimmt mir meine Beute wieder ab.«

Midschidschiquona flog daher am anderen Tag mit ihm und verbarg sich in der Nähe des Ufers. Pipidschiwisäns fing bald eine Ente, und gleich darauf erschien auch die große Eule, um sie ihm wieder abzunehmen. Schnell stürzte nun Midschidschiquona aus seinem Dickicht, packte sie mit seinen scharfen Krallen und trug sie nach Hause.

Der Kleine flog nebenher und versuchte ihr die Augen auszuhacken.

»Tu das nicht, Bruder«, sagte Midschidschiquona, »denn es ist Unrecht, einen hilflosen Feind zu verstümmeln und ihn zu lehren, gegen Schwächere grausam zu sein.«

Darauf ließ er die Eule wieder fliegen.

Die sechs Falken lebten noch lange Jahre beisammen, und die alten Mediziner, die diese Fabel erzählt haben, wollen ihren roten Landsleuten damit beweisen, daß Einigkeit und Bruderliebe jede Not des Lebens besiegen.

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Eule

Quelle:
Knortz, Karl: Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas. München: Verlag Lothar Borowsky, 1979, S. 207-209.
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