[38] 12. Der Idiot, der fliegen wollte

[38] Es war einmal ein Mann, der hatte eine Mutter und eine Schwester, aber leider nicht alle seine fünf Sinne. Daher nannte man ihn Wabassi (d.h. ein Mensch, der nicht ganz gesund ist). Seine Schwester hatte einen Hund, der hieß Warribisi, Wespe. Eines Tages ging Wabassi an den Meeresstrand, um Krabben zu fangen. Gerade als er aus dem Boot steigen wollte, kam ein riesiger Jaguar. Er dachte, es wäre der Hund seiner Schwester und rief: »Warribisi, Warribisi! Komm her! Was tust du hier?« Und als das Tier ganz nahe herankam, faßte er es um den Leib und versuchte, es ins Boot zu ziehen. Natürlich knurrte der Jaguar, aber Wabassi sagte nur: »Beiß mich nicht, Warribisi!« Und da das Tier zu schwer und plump war und sich nicht ins Boot zerren ließ, wurde er ärgerlich und rief: »Dummer Warribisi! Bleibe, wo du bist, meinetwegen kann ein Jaguar kommen und dich fressen!« Als Wabassi nach Hause kam, erzählte er seiner Schwester, daß er ihren Hund gesehen hätte. Sie sagte: »Nein, das ist nicht möglich. Du bist nicht recht gescheit. Warribisi ist während der ganzen Zeit hier bei mir gewesen.«

Ein anderes Mal ging Wabassi mit einigen Freunden und Verwandten auf die Jagd.


12. Der Idiot, der fliegen wollte

Sie trafen eine Rotte Wildschweine, und Wabassi schoß eins. Seine Freunde trugen alle Schweine, die sie erlegt hatten, auf einen Platz zusammen. Wabassi kam herbei, um sich die Strecke anzusehen, und ließ seine eigene Beute zurück. »Oh«, sagte er, »mein Wildschwein sieht ganz anders aus. Meins hat einen Fleck auf dem Kopf und eine platte Nase.« Da sagten die anderen, er solle es schnell herbeiholen und[39] ihnen zeigen. Als er mit seiner Beute kam, waren sie nicht wenig erstaunt, einen Jaguar zu sehen, und noch erstaunter waren sie darüber, daß der glückliche Jäger nicht einmal eine Schramme davongetragen hatte.


12. Der Idiot, der fliegen wollte

Am nächsten Tag kamen sie wieder nach Hause. Da kleidete sich Wabassi wie ein Vogel. Er steckte Federn, die den Schwanz vorstellen sollten, hinten in seinen Gürtel. Dann kletterte er auf einen hohen Baum und sprang von Ast zu Ast; dreimal; beim viertenmal trat er auf einen dürren Ast und fiel zu Boden. »Wie herrlich ich fliegen kann!« sagte er, während er seine Knochen zusammensuchte.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 38-40.
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